In der Talmudschule

Das Gotteshaus der jüdischen Organisation „Ateret Cohanim“ in der arabischen Altstadt Jerusalems soll wie „ein Stachel im Fleisch“ den Anspruch Israels auf den Ostteil der Stadt unterstreichen. Eine Reportage über den religiösen Alltag in einer Religionsschule

von HANS-ULRICH DILLMANN

Mühsam bahnt sich Akiva seinen Weg durch die Via Dolorosa. Rechts und links versperren ihm die Stände der arabischen Händler den Weg. Immer wieder versucht er, sich an Gruppen christlicher Pilger vorbeizudrängeln. „Die tun so, als ob ihnen die Via Dolorosa gehören würde“, kommentiert der religiöse Jude die Menschenansammlung. Wie an jedem Freitagnachmittag blockieren Pilger betend die Gasse im arabischen Ostteil Jerusalems. Missmutig betrachtet Akiva eine Gruppe, die sich bei einem der arabischen Händler ein rustikal gezimmertes Holzkreuz geliehen hat. Abwechselnd schleppen die Beter aus Korea das Kreuz zur Grabeskirche – auf jenem Weg, den die religiösen Geschichtsschreiber als den letzten des Heilands zur Kreuzigung bezeichnen. Choräle erklingen, Psalme werden rezitiert.

Die Devotionalienhändler in Ost-Jerusalem haben sich auf Pilger und Touristen aus aller Welt eingestellt. Die religiösen und politischen Auseinandersetzungen spiegeln sich in ihren Läden nicht wieder – in den Auslagen herrscht eine friedliche Koexistenz. Geschäft ist schließlich Geschäft. Neben dem jüdischen achtarmigen Chanukka-Leuchter werden für die christlichen Pilgerreisenden aus wohlriechendem Olivenholz geschnitzte Kreuze in allen Größen und für die muslimischen Bet-Touristen Miniaturen der Al-Aksa-Moschee als Andenken angeboten.

Akiva hat endlich sein Ziel in der Via Dolorosa erreicht: die „Igud Lohamay Yerushalaijm“-Synagoge. In der ersten Etage befindet sich das Gotteshaus der jüdischen Organisation „Ateret Cohanim“. Wie ein „Stachel im Fleisch“ soll der Betsaal den jüdischen Anspruch auf die arabische Altstadt von Jerusalem unterstreichen. Im gleichen Gebäude befindet sich eine Religionsschule, die „Igud Lohamay Yeshiva“, finanziert mit Spendengeldern aus den USA und Israel. „Wir wollen aller Welt endlich deutlich machen“, sagt der Direktor von „Ateret Cohanim“, Josef Baumann, „der Ostteil Jerusalems gehört zu Eretz Israel.“

Seit knapp einem Jahr studiert Akiva Thora und Talmud gemeinsam mit hundert anderen Jeschiwa Boscherim unter der religiösen Anleitung des „Igud Lohamay“-Rabbiners Schlomo Aviner. Gedämpft dringt von der Via Dolorosa ein babylonisches Sprachengewirr nach oben in die Räume. „Das stört uns nicht, da wir uns ganz auf die heiligen Schriften und unser Gebet konzentrieren“, sagt Akiva. 1.200 Dollar müssen seine Eltern für den einjährigen Besuch der Talmudschule bezahlen. Akiva wohnt noch bei seinen Eltern im Westteil Jerusalems. Jeden Morgen nimmt er den weiten Weg in die Altstadt auf sich, um „Gott ein Stück näher zu sein“. Sein Weg führt ihn täglich, „außer am Sabbat natürlich“, durch das imposante Damaskus-Tor in der Jerusalemer Altstadtmauer über die Via Dolorosa in seine Jeschiwa, wie die Religionsschule auf Hebräisch heißt.

Um sieben Uhr beginnt mit dem Morgengebet der religiöse Alltag. Ihren Kopf bedecken die betenden Schüler dabei mit einer kreisrunden kleinen Kopfbedeckung, der Kippa. Über die Schultern legen sie den Tallit, einen Gebetsschal. Um den linken Arm und ihre Stirn haben sie jeweils ihre Gebetsriemen geschnürt, die Tefillin. In einem kleinen schwarzen würfelähnlichen Quader, der mit ledernen Riemen verknüpft ist, befinden sich Verse aus den fünf Büchern Mose. Zweimal wöchentlich holen die Boscherim während des Gottesdienstes die Thora mit dem Text der fünf Bücher Mose aus dem Schrein an der Stirnseite des Betsaales.

Nach dem Morgengottesdienst frühstücken die Jeschiwa-Schüler gemeinsam im Speiseraum, reihum müssen sie bei der Essenszubereitung helfen. Während des Frühstücks verteilen die Jüngeren die anfallenden Arbeiten untereinander, einige müssen den Abwasch erledigen, andere sind für die Reinigung der Synagoge und der Schulräume verantwortlich. „Aber am Vormittag bleibt auch immer ein wenig Zeit für private Erledigungen“, erzählt Akiva auf dem Weg in die Bibliothek.

An langen Holztischen sitzen die zumeist jungen Männer in Jeans, Sweatshirts und Turnschuhen über die Bücher gebeugt und studieren die „heiligen Worte“. Ihre moderne Kleidung und das staubig und antiquiert wirkende Ambiente sind dabei nur scheinbar ein Widerspruch. „Auf Äußerlichkeiten kommt es uns nicht an“, sagt Josef Baumann. Für ihr Studium stehen den Studierten hunderte religiöser Schriften in den Bücherregalen zur Verfügung. Die einen lesen tief über die Seiten gebeugt, andächtig und schweigend, andere sitzen in Gruppen zusammen, erklären sich gegenseitig Theorien und diskutieren sie.

Erst nach dem Mittagessen beginnen die eigentlichen Vorlesungen. Dann versammelt Rabbiner Schlomo Aviner seine Jeschiwa Boscherim um sich, zur Vorlesung über die Heilige Schrift. Der Religionslehrer erläutert ihnen die insgesamt 613 religiösen Ge- und Verbote der Thora, interpretiert sie aufgrund heutiger Erkenntnisse und referiert über die Aktualität Gottes und seine Bedeutung für das menschliche Leben heute.

Wenn im Westen von Jerusalem die Sonne untergeht, beenden die Talmudschüler mit dem Abendgebet ihren religiösen Alltag. Akiva zieht dann seinen Militärparker über, richtet noch einmal seine Kippa, bevor er wieder durch das Damaskus-Tor den arabischen Teil von Jerusalem verlässt, um in den Westteil der Stadt zu seinen Eltern und seinen Freunden zurückzukehren.

HANS-ULRICH DILLMANN, 49, lebt als freier Journalist in Berlin