Barocker Verstümmelungsmeister

Noch erwischt: Der eilige Regisseur Dario Argento ist das einzige Jurymitglied, von dem Filme auf dem Index stehen

Dario Argento ist im Stress. Drei Filme stehen jeden Tag auf dem Programm der Berlinale-Juroren, da kann die Passion schon mal in Arbeit ausarten. Als Argento in den Konferenzraum tritt, drängt die Zeit. „Hallo, hallo, sorry, Jungs, leider habe ich nur 25 Minuten Zeit, weil ich gleich unbedingt in ‚While the City sleeps‘ von Fritz Lang gehen muss. Gestern habe ich schon ‚Ministry of Fear‘ verpasst, so dass mir der Meister letzte Nacht im Traum erschienen ist und sich beschwerte. Heute darf ich ihn nicht enttäuschen.“

Wortschwall! Argento ist seit über dreißig Jahren im Geschäft und immer noch unbekümmert wie ein kleines Kind. Kurz noch ein Fritz-Lang-Lobgesang und gepriesen sei der Herr, dass es ihm vergönnt ist, im selben Jahr in die Berlinale-Jury berufen zu werden, in dem das Festival Lang die Retrospektive widmete. Fast beleidigt reagiert er auf die Frage, wie er überhaupt an die Einladung in die Jury eines deutschen A-Festivals gekommen sei. Denn während der Name Argento in seinem Heimatland Italien sogar in einem Atemzug mit Fellini, Antonioni und Leone genannt wird, genießt er in Deutschland nur in einem überschaubaren Spezialistenkreis von Horrorfans Kultstatus. Argento ist wahrscheinlich der einzige Juror in der Geschichte der Berlinale, der gleich zwei Filme auf der Liste für verbotene Filme der BPS hat.

In den 70ern/80ern war Italien berüchtigt für sein gewalttätiges Exploitation-Kino; Fulci, D’Amato, Lenzi, Deodato & Co produzierten wie am Fließband rohe, zum Teil mächtig asoziale Zombie-/Kannibalen-/Monster-Filme, die vor allem eins auszeichnete: garantiert keine eigene Handschrift. Auch Argento hat unter Konsumenten blutiger Videokost seine größten Fans, obwohl seine Filme außer genüsslich zelebrierten – und dabei hochartifiziell gefilmten – Verstümmelungen nur wenig mit den kleinen Meisterwerken der Italoploitation gemein haben.

Argento arbeitet eher wie ein Komponist, seine Filme bestehen aus großflächigen Tableaus, auf denen er wie ein Berserker seine abgründigen Fantasien auslebt. Die Wucht seiner Bilder ist ähnlich betäubend wie in Jess Francos besten Filmen, besonders in den unbezahlbaren Momenten, in denen alle Hemmungen fielen. Dann kroch die Kamera unter die Schädeldecke direkt in die warme, pulsierende Hirnmasse, oder es hagelte Vorwürfe von „Gewaltpornografie“. Gleichzeitig entstammte sein barocker Mystizismus mit seinen gotischen Schnörkeln direkt den Bildbänden der europäischen Kulturgeschichte.

Mit Argento hielt ein opulenter Manierismus im Horrorfilm Einzug, der Kunstkritiker wie Splatterfans gleichermaßen faszinierte. Ein Regisseur also, wie man ihn gerne öfter in der Jury der Berlinale sehen würde. Gerade hat Argento mit Max von Sydow seinen neuesten Spielfilm „Sleepless“ abgedreht. Es ist, wie er gesteht, eine nostalgische Rückkehr zu seinen Wurzeln des „Giallos“, ein schlichter kleiner Thriller, wie er ihn seit zwanzig Jahren nicht mehr gemacht hat. „Und“, fügt er sardonisch grinsend hinzu, „so blutig wie lange nicht mehr.“ ANDREAS BUSCHE