Kein Platz fürs Gehirn

Grenzerfahrung Nr. IV

In Arica, im Herzen der Atacama-Wüste, regnet es nicht. Die Atacama ist ein gewaltiges Meer aus Sand und Geröll, eine ockerfarbene schräge Ebene, die steil ansteigt, von null auf 4.000 Meter, vom Pazifik zum Altiplano, der Anden-Hochebene. Unten der eiskalte Humboldtstrom und die sandige Küste, oben salzige Wiesen, auf denen Lamas weiden.

Aufs Altiplano wollen wir. An diesem Morgen. Und wieder hinunter zum Pazifik. An diesem Nachmittag. Hoch zum Chungarásee wollen wir fahren, in 4.500 Meter Höhe, zum höchstgelegenen See der Welt. Die Tour ist ein Tagesausflug, den viele Busunternehmen in Arica anbieten.

Ein Tagesausflug? Und die Höhenkrankheit? „Keine Sorge, wir haben reinen Sauerstoff dabei, falls Ihnen die Höhe nicht bekommt“, flötet Reiseleiterin Luisa ins Mikrofon. Eine Familie mit Kindern ist mit dabei, auf der anderen Seite des Ganges sitzen fröhlich plaudernd zwei ältere Damen. Diese Tour könnte auch in den Harz gehen. Aber sie geht von null auf 4.500 Meter Höhe.

Wir lutschen brav unsere Bonbons, nuckeln an unseren Wasserflaschen, trinken dann in einem Rasthof Tee aus Kokablätter, grün und bitter, nicht berauschend, aber gut gegen la puna, die Höhenkrankheit. Doch spätestens als die Straße irgendwann nicht mehr ansteigt, als sich die wunderschöne Ebene des Altiplano auftut, spätestens hier, auf gut 4.000 Metern, hat uns die Höhenkrankheit erwischt. Sie hat sich langsam angeschlichen und ist durchaus unangenehm. Der Mund ist trocken und schmeckt metallisch. Der Magen ist groß und leer, als habe man ihn gerade ausgepumpt. Auf den Brustkorb hat sich ein dicker Mensch gesetzt. Der Schädel ist geschrumpft. Oder hat sich das Gehirn aufgebläht zu bislang ungeahnter Größe? Jedenfalls stößt es bei jeder Bewegung an die Schädeldecke. Daraus folgt pumpender Kopfschmerz. Wäre das Brummen konstant, man würde sich daran gewöhnen und es beim Blick aus dem Fenster vielleicht vergessen. Doch der Bus schaukelt. Und gleich werden wir aussteigen, uns in Bewegung setzen, Erschütterungen produzieren. Bei jedem Schritt wird das Gehirn um Platz betteln. Aber da ist kein Platz.

Es ist drei Uhr nachmittags, als wir am Lago Chungará ankommen (4.500 Meter). Flamingos stehen im Wasser, malerisch überragt von den Vulkanen Parinacota (6.330 Meter) und Pomerape (6.232 Meter). Schon der Gang zum Seeufer, dreihundert Meter von der Straße entfernt, ist eine Tortur. Jeder Schritt macht atemlos, jede Erschütterung quält den Kopf. Die meisten Mitfahrer sind gleich im Bus geblieben und lehnen ihre Köpfe müde an die Fensterscheiben. Einer der beiden Jungen hat Nasenbluten bekommen. Luisa gibt ihm – „nur zur Vorsicht“ – einige Minuten lang frischen Sauerstoff. Die beiden älteren Damen sind ganz weggetreten und dämmern vor sich hin. Eine von ihnen wird später hochschrecken und fragen: Sind wir angekommen?

Aber da sind wir längst wieder auf dem Weg nach unten, fahren, Serpentine um Serpentine, dem Pazifik entgegen.

ARIEL HAUPTMEIER