Der Mohn der Angst

Grenzerfahrung Nr. II

Ich hatte einen großen Rucksack dabei und wollte wandern. Von Hütte zu Hütte. Über grünes Gras auf der Hochfläche der Hardangervidda. Schlechte Planung und mangelnde Erfahrung hatten mich aber zur falschen Jahreszeit nach Mittelnorwegen gebracht. Die reizende Dame im Tourist-Office überlegte, klatschte in die Hände und rief: „I have a cosy little hut for you!“ Sie erklärte mir, ich hätte eine Viertelstunde Zeit, für eine Woche einzukaufen, dann würde mich der Besitzer zu meiner Hütte fahren.

Ein Jan holte mich ab, fuhr mich mit seinem Volvo durch den Wald, immer nur durch den Wald. Mitten im Wald hielt Jan an. Dort gab es einen See und einige Ferienhütten. Keine war bewohnt. Vor der kleinsten schaukelte zarter Mohn in Gelb, Rot und Orange in der Brise. Jan sperrte das garagengroße Holzhaus auf und drückte mir eine Karte zum Wandern in der Umgebung in die Hand, stieg wieder in seinen Volvo, und es war still.

Die Wanderkarte war eine kopierte Loipenkarte. Ich verbrachte den Nachmittag damit, Asche aus dem Herd zu räumen, Wasser aufzufüllen, die dürren Wacholderzweige in den Ofen zu schichten und den Mohnblumen zuzusehen. Am frühen Abend kamen Stechmücken, erste Vorboten des Sommers. Ich zog in die Hütte, riegelte Türe und Fenster zu und fürchtete mich.

Am nächsten Morgen konnte ich mir nicht recht erklären, woher dieses Rotkäppchengefühl gekommen war. Ich wusch mich nackt mit kaltem Wasser, braute Kaffee und beobachtete, wie die Sonne den Tau vom Gras schlürfte. Sorgfältig spülte ich das Geschirr, packte Knäckebrot, Käse und Wasser in meinen riesigen Rucksack, steckte die Loipenkarte in die Hosentasche und brach tapfer auf, den See zu umrunden. So ganz allein im Wald geht man mit den Ohren. Meine wuchsen wie Mr. Spocks Exemplare und warteten nur darauf, dem eingeschüchterten Gehirn zu melden, dass Marsmenschen aus dem Gebüsch brechen.

Derart angespannt, erschrak ich zu Tode: Mit erheblichem Getöse trat zwei Meter vor mir ein riesiger Elch aus dem Wald – blickte erschrocken zu mir und verschwand. In all den Jahren danach habe ich nie wieder einen Elch gesehen, nur damals, keine hundert Schritt von meiner Hütte entfernt. Das geht ja gut los, sprach ich mir verzweifelt Mut zu.

Aber dann geschah rein gar nichts mehr. Die ganze Woche nicht. Am ersten Abend las ich mein einziges Buch – wer von Hütte zu Hütte wandern will, hat im Rucksack nicht viel Platz für Lesestoff – zur Hälfte aus, obwohl es Hamsuns „Segen der Erde“ war. Am dritten Tag brach ich zu dem kleinen Berg auf, der unübersehbar wie ein umgedrehter Kochtopf die anderen Hügel überragte und fand ihn auch und fand zu meiner großen Begeisterung sogar den Weg zurück zu meiner Hütte. Am vierten Abend vergaß ich bereits, die Türe zuzusperren. BARBARA SCHAEFER