Der große Zorn auf die Bauern

Niemand mag die moderne Landwirtschaft. Das hat nicht nur etwas mit Massentierhaltung und Pestiziden zu tun. Die Ausgrenzung der Landwirte hat historische Ursachen. Zugleich wird die agrarische Vergangenheit verkitscht

von ONNO POPPINGA

Folgende kurze Geschichte trug sich im Frühjahr 2000 in Kassel zu. Studenten und ihre Betreuer trafen sich mit einem Bürgermeister aus Nordhessen. Ein Gemeindezentrum sollte in seinem Ort gebaut, so genannte naturschutzfachliche Ausgleichsmaßnahmen sollten auf einem Acker ausgeführt werden. Die Studenten fragten, ob denn die Gemeinde kein Interesse habe, diese Ackerfläche zu erhalten. Antwort des Bürgermeisters: „Ja, wenn das noch so eine Landwirtschaft wie früher wäre, dagegen hätte ja niemand was. Aber die heutige Landwirtschaft mit Insektiziden und Pestiziden, die will keiner mehr in Ortsnähe haben.“

Traditionelle Landwirtschaft: ja, moderne Landwirtschaft: nein. Das ist eine weit verbreitete Auffassung voll verzwickter Missverständnisse und Ärgernisse.

Schon die erste Aussage – dass wir nichts gegen eine Landwirtschaft wie früher hätten – ist fragwürdig, zumindest auf den zweiten Blick. Landwirtschaft wie früher, das bedeutete den täglichen Trieb der Kühe durch die Straße (entsprechend hoch und stabil hatten Tore und Zäune zu sein), einen Misthaufen vor jedem Haus; es bedeutete die artspezifischen Geräusche und Gerüche von Hühnern, Pferden, Ziegen, Schafen aus jedem Haus und Stall. Bei Umzügen zum Dorfjubiläum sind Formen dieser Landwirtschaft wie früher gern gesehen – im Alltag bleiben sie eine absurde Vorstellung.

Noch grotesker wird die Aussage, wenn man an die sozialen Bedingungen denkt. 365 Tage im Jahr rankte sich der Alltag, richteten sich Ängste, Hoffnungen und Freude vor allem auf die Nutzung der Äcker und Wiesen, auf die Pflege der Tiere. Die große Mannigfaltigkeit der bäuerlichen Kulturlandschaften, von Ort zu Ort wechselnd, deren Verlust heute so stark beklagt wird – sie war vor allem das Ergebnis dessen, dass einer sehr, sehr große Zahl von Menschen in der Landwirtschaft arbeitete. Immerhin war noch bei der Gründung der Bundesrepublik ein Viertel der Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt.

Anmache ist normal

Wollte unser Bürgermeister wirklich dahin zurückkehren? Sicher nicht, denn es handelt sich hier um einen erfahrenen Politiker, der wiedergewählt werden will, der seine Leute kennt, der nicht im Sinn hatte, sich grotesk lächerlich zu machen. Tatsächlich wird das heutige Verhältnis zur Landwirtschaft durch deutliche, ja krasse Ablehnung bestimmt. Darin hat der Bürgermeister Recht: „. . . die heutige Landwirtschaft mit Insektiziden und Pestiziden, die will keiner mehr in Ortsnähe haben.“

Beim Mähdreschen in Ortsnähe ist Anmache normal, Prügelei kommt vor. Mist- oder Güllefahren – selbst Kleinkinder halten sich demonstrativ die Nase zu, auch wenn der Miststreuer leer ist. Neue Ställe werden meist nur noch weit entfernt vom Dorf genehmigt. Oft genug begleiten Bürgerinitiativen das Verfahren. Dies nicht nur bei Massentierhaltung, sondern auch bei durchschnittlicher Größe der Ställe.

Unsere Alltagskultur steht der landwirtschaftlichen Lebensform verständnislos gegenüber. Nicht nur „Das Bett im Kornfeld“ ist ein Evergreen, sondern auch Vicky Leandros’ Lied „Theo, wir fahren nach Lodz“. Bitte mal genau hineinhören: „Ich habe diese Landluft satt, will lieber in die große Stadt. Gottverlassenes Dorf, nur Heu und Torf; stets der gleiche Trott, nur hü und hott; im Stall die Kuh macht muh, die Hähne krähn dazu; das hält keiner aus, ich will hier raus.“

Dass viele Bauern und Bäuerinnen ungewollt allein stehend sind, hat sicher zahlreiche Ursachen – doch ihre kulturelle Ausgrenzung und die Ablehnung der aktuellen Landwirtschaft tragen erheblich dazu bei.

Dabei ist diese moderne Landwirtschaft unser aller Ding: Technisierung und Chemisierung wurden und werden vom Staat vorangetrieben; die Rationalisierungen in der landwirtschaftlichen Verarbeitungsindustrie wären ohne staatliche Investitionsförderung nicht vorstellbar gewesen. Auch die maschinengerechte Zurichtung der Feldfluren erfolgte stets im Rahmen der staatlichen Flurbereinigung – selbst dann, wenn sich die Grundeigentümer unübersehbar zur Wehr gesetzt hatten. Zudem haben alle Formen der Landwirtschaft öffentliche Prüfverfahren durchlaufen, die Anlagen der Massentierhaltung genauso wie die Gülletechnologie und die immer neuen Generationen von Pestiziden.

Man will also durchaus die heutige Landwirtschaft haben – nur nicht in Ortsnähe. Sie funktioniert, wie die Gesellschaft es vorgibt. Was sich auch darin zeigt, dass sich nicht nur die Telekom an der Börse tummelt. Auf Wunsch des damaligen Bundeslandwirtschaftsministers werden auch die deutschen Milchquoten seit dem 1. April 2000 so gehandelt. Folge: In nur fünf Monaten gaben 13 Prozent der deutschen Milchviehbetriebe ihre Milchproduktion auf. Das ist ein beispielloser Zusammenbruch in der jüngeren deutschen Geschichte – und zugleich ein Beispiel für eine bislang unbekannte Zunahme der Konzentration.

Wie passt das Ganze nun zusammen? Die Entwicklungspsychologie betont übereinstimmend die außerordentliche Bedeutung, die kollektive Erfahrungen aus der Geschichte der Mensch-Natur- Beziehungen auch heute noch haben. Ackerbau und Viehzucht, „Borstenvieh und Schweinespeck“ bilden seit je die Grundlage der mitteleuropäischen Gesellschaften.

Niemand weiß das besser als die Werbewirtschaft: Ob es die „Bauernwurst aus . . .“, der „Schnaps mit dem . . .“, das „Gute . . .-Bauernbrot“ ist – immer werden die Produkte umrahmt von Bildern mit landwirtschaftlicher Handarbeit, einer sichtbar glücklichen bäuerlichen Großfamilie, wohlig im Stroh ruhenden Tieren. Auch für jeden landwirtschaftlichen Betrieb, der sein Einkommen mit „Urlaub auf dem Bauernhof“ aufbessern will, ist es grundlegend wichtig, sich entsprechend zu inszenieren. Unterschiedliche Tierarten in kleiner Zahl sind dabei ein Muss. „Tage des offenen Hofs“ müssen gestaltet werden. Auch wenn sich inzwischen fast alle Menschen von der zivilisationsgeschichtlichen Grundlage der Landwirtschaft entfernt haben, ist sie eine generationenübergreifende Basiserfahrung.

Auffallend ist zudem der hohe Stellenwert, den Merkmale der früheren bäuerlichen Kulturlandschaft heute noch haben – das schattige Wiesental, der sich sanft schlängelnde Bachlauf, die harmonischen Feld-Wald-Übergänge, die kleinteiligen Ackerterrassen. Wir lieben immer noch jene Landschaften, die uns früher das Überleben ermöglichten und also Nahrung, Schutz und intellektuelle Anregung boten. Noch heute gestalten wir unsere Gärten nach diesem alten ästhetischen Imperativ.

Die moderne Landwirtschaft entspricht diesem Bild kaum noch. Aber das erklärt noch nicht die Schärfe und die Verachtung, mit der auf sie reagiert wird. Historische Aspekt kommen hinzu. So haben, ein zu Unrecht selten beachteter Gesichtspunkt, viele Menschen die Höfe unter diskriminierenden Bedingungen verlassen müssen. Ihr Verhältnis zur heutigen Landwirtschaft wird oft durch Zorn bestimmt.

Zentral für diese Benachteiligung war das landwirtschaftliche Erbrecht in Deutschland (und Österreich). Während im übrigen Europa das Erbe – mehr oder weniger – gleich verteilt wird, wird in Deutschland oft die geschlossene Vererbung angewandt. Dieses Erbrecht geht historisch gesehen keineswegs auf die Forderung der bäuerlichen Bevölkerung zurück, sondern auf die der Obrigkeit. Ihren Höhepunkt hatte es in der NS-Zeit, wo es auf alle Höfe ausgedehnt wurde, die einer so genannten Ackernahrung entsprachen (das waren etwa acht Hektar und mehr): eine krasse Benachteiligung bei der Verteilung des Vermögens. Viele der weichenden Erben waren erfolgreich in ihrem Beruf – und nahmen dennoch Trauer und Zorn mit. In den Agrarwissenschaften, aber auch in der akademischen Landschaftsplanung finden sich viele Menschen mit einer solchen sozialgeschichtlichen Biografie.

Außerdem hatten die beiden wichtigsten sozialen Klassen der sich herausbildenden Industriegesellschaft mit der Landwirtschaft ihr Hühnchen zu rupfen. Das Besitzbürgertum hatte in erheblichem Umfang versucht, selbst in die Landwirtschaft einzusteigen, zu kaufen und zu investieren. Man hoffte auf eine stabile Agrarkonjunktur als Folge der wachsenden Bevölkerungszahlen – und hat sich damit verspekuliert.

Diskriminierendes Erbe

Die Arbeiterschaft wiederum setzte sich zu einem erheblichen Teil aus Menschen zusammen, die als Folge der vom Staat durchgeführten großen Agrarreformen einen wichtigen Teil ihrer bisherigen Lebensgrundlage – die kleine Landwirtschaft, die Mitnutzung an der Allmende und an der Dorfherde – verloren hatte. Auch für die Herausbildung des marxistischen Geschichtsverständnisses spielte die vom Staat organisierte Durchsetzung bürgerlicher Eigentumsverhältnisse in der Landwirtschaft einschließlich der Ausgrenzung und Vertreibung der „kleinen Leute“ eine zentrale Rolle.

Das diskriminierende Recht der geschlossenen Vererbung sowie die Proletarisierung der Kleinbauern waren das Ergebnis staatlicher Politik. Aber die noch heute nachwirkende Alltagserfahrung bestand darin, dass die verbliebenen Bauernhöfe die Nutznießer dieser Reformen waren. Ihre Wirtschaften erstarkten. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts konnten sie sich als eigenständiger wirtschaftlicher und politischer Sektor behaupten.

Mag sein, dass diese Entwicklungen lange her sind. Aber ihre Auswirkung – die Abwertung der aktuellen Landwirtschaft – ist tradiert worden. Zumal die Krisenjahre nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg den alten Konflikt erneut aktualisierten. Schließlich kehrten sich in ihnen die Verhältnisse zwischen Stadt und Land noch einmal um: Plötzlich sahen sich die Menschen wieder direkt abhängig von den Bauern.

Ja, wenn das noch so eine Landwirtschaft wie früher wäre? Der Bürgermeister hätte sagen sollen: Es ist unsere Landwirtschaft, wo sie uns gefällt; es bleibt aber auch unsere Landwirtschaft, wo wir uns abwenden. Und: Zur Ausgrenzung der Landwirtschaft tragen nicht nur ihre modernen Erscheinungsformen bei. Sondern auch zählebige alltagskulturelle Muster.