Eine Chance für die Ostsee

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

Gehört Russland zu Europa? Generationen von russischen Intellektuellen haben sich an dieser Frage seit gut anderthalb Jahrhunderten die Zähne ausgebissen. Ohne eine klare Antwort zu finden. Inzwischen ist es mit einer bloßen philosophischen oder ideologischen Debatte freilich nicht mehr getan. Die Osterweiterung der Europäischen Union zwingt Russland, sich zu positionieren und Farbe zu bekennen. Durch die Aufnahme Polens und der baltischen Staaten wird Russland zu einem direkten Nachbarn der Union. Noch verfolgt Moskau die Ausweitung des politischen Europas mit Misstrauen, gleichwohl sieht man wohl, dass die Aufnahme jedes neuen Mitgliedes auch neue Kandidaten schafft. Die Chancen der Anrainer steigen, eines Tages selbst in den Club aufgenommen zu werden. Russlands Aussichten zur Zeit sind nicht rosig. Aber muss das immer so bleiben?

Eine berechtigte Überlegung, mit der Sergej Karaganow eine Moskauer Tagung zum Thema „Pobleme der Außen- und Sicherheitspolitik. Russland und die EU“ eröffnete, an der auch eine hochrangige Delegation der Union teilnahm. Die schwedische Außenministerin und Ratspräsidentin Anne Lindh wurde vom außenpolitischen Beauftragten Javier Solana und Hochkommissar Chris Patten begleitet. Die EU Politiker waren auf dem Weg nach Kaliningrad (Königsberg), der russischen Ostseeexklave, die durch die Osterweiterung zu einer „russischen Insel im europäischen Meer“ wird.

„Was wollen wir? Mit der EU nur zusammenarbeiten oder gar Mitglied werden ?“, räsonnierte der Vorsitzende des russischen Rats für Außen- und Sicherheitspolitik Karaganow. Bisher habe sich Russland nicht festgelegt, wohin es eigentlich strebt. Für manchen russischen Politiker klang das wie eine Provokation. Es trifft aber den Kern. Denn Moskau nimmt die Europäische Union erst seit geraumer Zeit als einen ernsten politischen Partner wahr. Vorrang räumt der Kreml nach wie vor bilateralen Kontakten ein.

Russlands erster stellvertretender Außenminister, Alexander Awdejew, goss die russischen Wünsche gegenüber Europa unterdessen in eine freundliche Formel, die wohl den Wunsch nach Annäherung zum Ausdruck bringen sollte. „Wir wollen nicht beitreten, aber dennoch solche Beziehungen zur EU unterhalten, wie sie zwischen den Mitgliedsstaaten herrschen.“ Niemand hakte nach, wie sich der Vizeaußenminister dergleichen vorstelle. Strebt Moskau einen Sonderstatus an, der Rechte zusichert, aber den Kreml zu nichts verpflichtet? Eine Haltung, mit der Russland wegen seiner Größe westliche Unterhändler gelegentlich vor den Kopf stößt. Zum Prüfstein der künftigen Beziehungen zur EU erhob Awdejew die Verhandlungen um Kaliningrad. Und auch Hochkommissar Chris Patten erklärte die russische Exklave zum „Pilotprojekt“. Gleichwohl zeigten sich auch hier deutliche Unterschiede. Brüssel hebt die langfristigen positiven Aspekte einer Einbindung hervor. In Moskau überwiegen Bedenken, die Erweiterung werde der Region schaden. Die Ängste erklären sich vor allem aus Unkenntnis. Moskau hat sich mit dem Problem bisher nicht befasst und war erstaunt, „dass die EU plötzlich ein konstruktives Programm aus der Tasche holte“, meinte ein EU-Diplomat.

Für Russland steht die Regelung des Visa- und Transitverkehrs im Vordergrund. „Die Ergebnisse werden sich auf unsere Motivation auswirken, auch andere Probleme zu lösen“, so Awdejew. Das war durchaus als Warnung gedacht. Die Europäer lenken ihr Augenmerk indes auf die zahlreichen ökologischen Notstände in der Region, auf die Gefahren des dort lagernden Rüstungspotenzials und die selbst für Russland hohe Kriminalitätsrate. Vierzig Prozent des gesamten Handels treibt Russland mit der Europäischen Union. Der Austausch umfasste im letzten Jahr 58 Milliarden Euro. Die stetig wachsende ökonomische Verflechtung hat sich indes nicht in gleichem Maße auf das Bewusstsein der jüngeren Politikergeneration ausgewirkt. Erstaunlich und bedrückend zugleich: Ausnahmslos alle russischen Politiker und Experten des Symposiums schauen auf Europa durch die Brillen von Sicherheits- und Rüstungspolitikern. Die Integration der Osteuropäer wird daher nur als ein Vorspiel zur weiteren Osterweiterung der Nato verstanden. Man reagiere nicht allergisch, hatte Adejew gesagt, aber . . . In dieser Logik kommt der europäischen Integration nur die Bedeutung eines Nebenschauplatzes zu. Drahtzieher hinter den Kulissen ist und bleibt in russischer Sicht Washington. Das Vorhaben der Amerikaner, ein Raketenabwehrsystems im Weltraum (NMD) zu errichten, hat das ohnehin tiefe Misstrauen noch verschärft. War es unterdessen Zufall, dass amerikanische Zeitungen just am Reisetag der EU-Delegation nach Kaliningrad Berichte lancierten, die den Russen unterstellen, strategische Waffen heimlich dorthin verlegt zu haben ? Eine seltsame Koinzidenz zumindest.

Die militärische Sicht behindert die Russen, gegenüber Europa eine pragmatische Haltung einzunehmen. Mit einem originellen Vorschlag wartete daher der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der Duma auf: Würde die Nato Russland zu Beitrittsverhandlungen einladen, die Jahre dauern und vielleicht niemals zum Erfolg führen, glaubt Alexej Arbatow, so würde das doch wenigstens das Misstrauen gegenüber den Erweiterungsplänen abbauen. Weder Russen noch Gästen schien dieser Gedanke zu behagen.

Moskau kommt nicht umhin – will es eines Tages Teil Europas sein – die längst gelbstichigen Konzepte geopolitischer Dominanz durch militärische Stärke dem Archivar anzuvertrauen. Erreicht es nicht einen Mindeststandard an wirtschaftlicher Prosperität, verpasst es den Zug gen Westen. Und noch etwas, worauf die EU-Kommissäre erfreulich offen hinwiesen: Der Tschetschenienkrieg und die Versuche des Kreml, die kritische Presse mundtot zu machen, vertragen sich nicht mit dem Grundwertekatalog der EU.

Indes: Es gibt auch Positives – abseits der großen Politik. Im Ostseeraum entwickelt sich langsam die Kooperation auf der Ebene der Kommunen und Regionen. Besonders Schweden engagiert sich mit dem Programm „Nördliche Dimension“, das grenzüberschreitende Kontakte und Kooperation fördert und ermutigende Erfahrungen sammelte. Die meisten westlichen Experten vermuten daher, der Aufwärtstrend in den Beitrittsländern würde sich bald auch in den EU-nahen russischen Regionen niederschlagen. Zweckoptimismus? Nicht nur. Vorausgesetzt der Kreml erkennt, dass die gegenwärtige Tendenz, Kompetenzen aus den Regionen abzuziehen und ins Zentrum zurückzuverlagern, ausbaufähige Brückenköpfe zur EU schleift und sie so dem Schicksal dümpelnder Randgebiete überlässt.