Im Eierkarton auf dem Weg ins Nirgendwo

■ Gelungene doppelte Opernpremiere in Oldenburg: Katja Czellnik inszeniert „Aleko“ und „Francesca di Rimini“

Am Oldenburgischen Staatstheater ist immer wieder der Mut zum nie gespielten Repertoire, aber auch der zu innovativen Inszenierungen zu bestaunen. Letzteres meint noch keine Wertung, denn das kann ja auch schiefgehen. So ist jetzt eine musikhistorische Rarität zu bewundern: das Kompositionsexamen, das 1892 der russische Komponist Sergej Rachmaninow am Moskauer Konservatorium ablegte. Es ist die einaktige Oper „Aleko“, die der Neunzehnjährige nach dem Gedicht „Die Zigeuner“ von Alexander Puschkin in weniger als drei Wochen niederschrieb.

Doch nichts von Zigeunermilieu ist in der Inszenierung von Katja Czellnik zu sehen. Sie siedelt die Eifersuchtstragödie von Aleko, der, nachdem ihn seine Frau verlassen hat, zu den Zigeunern gezogen ist und dort zum zweiten Mal einen Nebenbuhler erleben muss und beide umbringt, auf einer gesellschaftlich abstrakten Ebene an: Die Menschen rasen auf mit blau gemalten Eierkartons (Ausstattung: Vera Bonsen) verkleideten Rollstühlen einher, rempeln sich roboterhaft an oder auch nicht, haben nie etwas miteinander zu tun. Das Wichtigste ist ihre Freiheit, Aleko muss es schmerzhaft lernen – eiskaltes Bild für eine kommunikationslos gewordene Gesellschaft, das sich aber leider zu schnell erschöpft und keine psychologischen und schon mal gar keine theatralischen Funken mehr schlagen kann.

Durch diese Idee allerdings findet die Regisseurin einen Bogen zum zweites Stück des Abends, die etwas bekanntere Rachmaninow-Oper „Francesca da Rimini“ (1906 uraufgeführt). Auch hier geht es um Eifersucht: In Dante Alighieris „Divina Commedia“ (Canto V) geraten Francesca und Paolo wegen ihrer ehebrecherischen Beziehung in das „Inferno“. Auch hier verzichtet Czellnik auf die konkrete Szene, die im Palast des Malatesta spielt und von einem Prolog und Epilog im ersten Keis der Hölle umrahmt ist. Jetzt geraten in Czellniks Interpretation die verdammten Menschen, durch Glatzen einander nahezu gleichgemacht, noch abstrakter. Und da ist es genial, wie die Regisseurin das persönliche Drama der beiden Liebenden entwickelt: Immer wieder und in immer größerer Schnelligkeit werden sie von den Bürostuhlfahrern auseinander gerissen, und aus der kalten Abstraktion entspringt ein geradezu ergreifender Realismus des Zueinanderdrängens.

Es gibt unzählbare Nachdichtungen des auf einer wahren Begebenheit beruhenden Sujets – eine der berühmtesten ist vielleicht Gabriele d'Annunzios 1901 geschriebene Tragödie für Eleonora Duse – und über dreißig erfolglose Vertonungsversuche von „Francesca da Rimini“. Rachmaninows tief emotionale Musik kann sich in dieser Inszenierung fabelhaft entfalten.

In den Händen von Raoul Grüneis zauberte das Oldenburgische Staatsorchester die vertrackt schwierigen Rhythmen und tief-tristen, manchmal geradezu depressiven, aber immer dramatisch aufwühlenden Klangfarben. Hochinteressant die ChorsängerInnen aus dem Off, die Vokalisen mit geschlossenem Mund zu singen haben; „das war kein Gesang, das war ein tiefes Stöhnen“ schrieb damals die zeitgenössische Kritik.

Auf der Bühne von Katja Czellnik befindet sich der brillant rollende Bewegungschor und es kann gar nicht genug gelobt werden, was diese Gruppe – immerhin LaiInnen – leistet. Bedingungsloses Lob auch den – russisch singenden – SolistInnen, die ihre immens schweren Partien bewunderungswürdig bewältigten. Das ist umso bemerkenswerter, weil durch die Einheitsmenschen von Czellnik Persönlichkeitsbildung und Charakterisierung ausschließlich aus gesanglichen Nuancen zu ziehen waren: Alexia Basile als Semfira und Susanne Schubert als Francesca, Robert Woroniecki in der Doppelrolle des jungen Mannes und des Paolo, Henry Kiichli als Aleko, Bernard Lyon als Lanciotto und – ein weiteres Bindungsglied der beiden Inszenierungen – Fritz Vitu als der Alte und Virgils Schatten.

Ute Schalz-Laurenze

Weitere Aufführungen: 25. Februar, 31. März, jeweils 19.30 Uhr. Karten: Tel.: 0441/ 22 25 111