„Das Potenzial entwickeln“

Nur wer lernt, sich selbst zu achten, kann auch anderen Menschen die nötige Achtung entgegenbringen, um ein gemeinschaftliches Zusammenleben zu ermöglichen

Frau Dr. Rueffler, in Georgien haben Sie versucht, ein traumatisiertes Dorf wieder lebensfähig zu machen. In Bali setzten Sie bereits vor einer Traumatisierung durch einen multiethnischen Konflikt an. Ein ähnliches Projekt bereiten Sie gerade in Berlin vor. Wo setzen Sie an?

Margret Rueffler: Mich interessiert die Frage, ob kollektiver Gewalt vorgebeugt werden kann. Arbeitsplatzmangel, ethnische und kulturelle Spannungen provozieren immer wieder Gewalt. Ich möchte zeigen, dass das nicht unbedingt so sein muss.

Wie?

Wir gehen in einen Berliner Stadtteil und bieten Jugendlichen an, mit uns gemeinsam an Projekten zu arbeiten. Die Projekte können sie selbst auswählen; was das im Einzelnen ist, ist unwichtig.

In Georgien wollten die Menschen beispielsweise ein eigenes Geschäft aufbauen oder die Lebenskultur durch Jugendtreffs verbessern. Das kann in Berlin etwas ganz anderes sein. Wichtig ist, dass die Menschen, die bei uns mitmachen, ihr Potenzial entwickeln. Das wirkt dann stimulierend auf andere.

Ihr Potenzial?

Richtig. Ihre Fähigkeiten, ihren Reichtum . . ., wie man das auch nennen mag. Jeder Mensch hat Potenzial, aber das liegt leider oft brach. Es ist zu Unrecht unterentwickelt. Wir sind eine riesige Gesellschaft von Verlierern. Die wenigen Gewinner treten nach unten. Wir sagen den Leuten nicht, sie seinen Versager. Im Gegenteil: Wir versuchen ihr Potenzial zu entwickeln. Wir achten den Menschen. Dann lernt er, sich selbst zu respektieren. Nur dann kann er andere respektieren, beispielsweise Menschen anderer Herkunft.

Aber für das möglichst konfliktfreie Zusammenleben verschiedener Bevölkerungsgruppen gibt es auch Sozialpädagogen.

Unsere Gesellschaft ist fasziniert vom Pathologischen. Sie interessiert sich für das, was sie nicht hat. Sie verdrängt oftmals. Derzeit wird das Problem der Skinheads verdrängt. Das funktioniert nicht.

Die klassischen Sozialpädagogen versuchen, Menschen mit der Gesellschaft kompatibel zu machen, sie in einem gesellschaftliche Kontext funktionieren zu lassen. Was wir anstreben, ist eine Veränderung der inneren Haltung. Dann verändert sich das Verhalten. Unsere Prinzipien und Werte sind Mitgefühl, Ermächtigung und Selbsthilfe.

Das erzählen Sie dann in einer Gruppe mit multiethnischen Spannungen?

Natürlich. Wenn jeder Einzelne sich zuerst selbst achten und respektieren lernt, kann er mit der Zeit auch dem anderen seinen Raum erlauben. Widerstand und Konflikt können bewusst angegangen werden. Auch in Georgien, als wir angegriffen wurden, hätten wir uns in den Konflikt hineinziehen lassen können. Ich sehe den Konflikt als Teil des Prozesses, der einen sicheren Rahmen braucht, in dem er ausgetragen werden kann. Die meisten Menschen ziehen Wohlbefinden und Lebensfreude einer Konflikt- und Gewaltsituation vor.

INTERVIEW:
KARSTEN NEUSCHWENDER