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: Piraten im Land Nirgendwo: Leander Haußmann liest den Kinderbuchklassiker „Peter Pan“

Wendy und ihr Darling

„Als das Kind Kind war, wusste es nicht, dass es Kind war“ – der Peter-Handke-Satz gilt selbstverständlich nur für traurige Erwachsene, die glauben, ihr Unglück resultiere aus einem Überschuss an Reflexionsumdrehungen. Jedes Kind würde Handke widersprechen.

Zum Beispiel ein anderer Peter – Peter Pan, der sehr genau weiß, dass er ein Kind ist und welche Vor- und Nachteile das mit sich bringt. Genau genommen gibt es in Peter Pans Fall nur einen, wenngleich gravierenden Nachteil: Er ist ein Kind ohne Mutter. Dafür allerdings lebt er umgeben von Feen, Krokodilen, Indianern und Piraten im Land Nirgendwo, wo niemand ihn zwingt, zur Schule oder früh ins Bett zu gehen, wo er zusammen mit den verlorenen Jungs, die auch keine Eltern haben, die aufregendsten Abenteuer besteht. Und: Peter kann fliegen! Außerdem verleiht ihm seine Jugend glamouröse Frechheit und ein komplett unsentimentales Gerechtigkeitsgefühl, das selbst den brutalen, bösen und neidischen Piratenboss Hook in Schach hält! Und wenn trotzdem etwas schief läuft, rettet ihn Tink, die Diva unter den Feen. Kein Wunder, dass Peter selbstbewusst und konsequent entscheidet, niemals erwachsen zu werden. Sogar um den Preis einer Mutter.

Der Theater- und Filmregisseur Leander Haußmann, der mit einem Alter von vierzig Jahren und einem Sohn verständlicherweise nicht mehr als jung, wild oder jugendlich bezeichnet werden möchte, hat die Geschichte von Peter Pan auf drei CDs gesprochen. Im vergangenen Jahr verabschiedete sich Haußmann nach fünfjähriger – und, man wird behaupten dürfen, durchaus nicht in allen künstlerischen Aspekten von Glück überstrahlter – Intendanz vom Bochumer Schauspielhaus mit einem Pan-Musical, aus dem das nun erschienene Hörbuch hervorgegangen ist. Auf dem Booklet prangt das blutrot strahlende Herz, Haußmanns Bochum-Logo. Die Ensemble-Schauspielerinnen Annika Kuhl und Steffi Kühnert haben – teilweise etwas überdreht – die Parts von Peter und Wendy übernommen. Und drei rumpelnde Songs von Element of Crime, die den Bühnen-Soundtrack komponierten, rahmen den Klassiker der Kinderliteratur ein.

Vor beinahe hundert Jahren wurde Peter Pan von James Matthew Barrie erfunden, einem schottischen Journalisten mit viel Fantasie und augenzwinkerndem Witz, doch erstaunlich fantasielosen und überhaupt nicht augenzwinkernden Vorstellungen davon, was Mädchen und Jungs unterscheidet. Wie in fast jedem Kinderbuch braucht der außerordentliche Held ein gewöhnliches Gegenüber. Und Peter Pan braucht deshalb Wendy Darling, ein ziemlich durchschnittliches kleines Mädchen aus einem ungewöhnlich liebevollen Elternhaus.

Mädchen, denkt Peter nämlich, sind etwas ganz Besonderes. Nein – nicht, weil sie so schön und klug und mutig sind, sondern weil sie das Zeug zu zukünftigen Müttern haben. Das leuchtet auch Wendy ein, die sich mitsamt ihren Brüdern John und Michael aus dem Kinderzimmer nach Nirgendwo entführen lässt, um dort für Peter und die verlorenen Jungs begeistert Mutter zu spielen.

Dass unter diesen Voraussetzungen die zarte Liebesgeschichte zwischen Peter und Wendy missraten muss, liegt auf der Hand. Als Wendy nach vielen Abenteuern wieder zurück nach Hause findet und Peter traurig Adieu sagt, hat schließlich Mrs. Darling eine großartige, Hoffnung spendende Idee, die Wendys Augen leuchten lässt: Sie darf Peter einmal im Jahr eine Woche besuchen, um für ihn den Frühjahrsputz zu erledigen.

Zumindest für erwachsene Hörerinnen klingt das inzwischen entweder nach schwarzem britischem Humor oder der Kompensationsübung eines bedauernswerten Junggesellen – dem kleinen Überschuss an Reflexionsdrehungen sei Dank. Glücklicherweise erzählt „Peter Pan“ aber zugleich eine spannende, tragikomische Abenteuergeschichte voller liebenswert anarchischer Momente.

Und ebenso glücklicherweise ist Leander Haußmann kein Märchenonkel, sondern ein sprecherzogener Schauspieler, der seine Stimme klug und geschmeidig einsetzt, dabei seine Hörer spürbar ernst nimmt – auch wenn er ab und zu vergisst, welche Stimme er welcher Figur verliehen hat.

Leander Haußmann liest Peter Pan. Von James M. Barrie, mit Musik von Element of Crime. 3 CDs, Laufzeit 3,37 Stunden, Roof Music 2000, 44,90 DM