Vaterfiguren im Winterschlaf

■ Gelungen: Der Auftritt des Schriftstellers Josef Haslinger beendete „Literatour Nord“

Ob es denn nötig sei, druckste eine Zuhörerin in der obligaten Fragerunde, die „Selbstbeschäftigung“ des Ich-Erzählers so ausführlich zu schildern. Sie brauche das nicht, wenngleich ihr der Roman ansonsten gut gefallen hätte. Damit verdiente sie sich erstens eine Freikarte für die nächste Lesung von Bret Easton Ellis. Und zweitens gab sie dem Österreicher Josef Haslinger, der am Sonntag im Ambiente mit einer Lesung aus seinem Roman „Vaterspiel“ die diesjährige „Literatour Nord“-Lesungsreihe abschloss, Gelegenheit zu kontern.

Der Autor des Bestsellers „Opernball“ und, wie Moderator Gert Sautermeister völlig zu Recht hervorhob, neben Robert Menasse literarisch und politisch interessanteste Arbeiter in Sachen Essayistik zur österreichischen Zeitgeschichte, übernahm nicht den Part des gekränkten Künstlers. Dafür ist er zu souverän. Er wählte – elegant wie gut verstehbar – die poetologische Variante: Um einer Ich-Figur Konturen zu verleihen, sagte Haslinger, sei es eben nötig, ihr Innenleben zu veräußern. Und das bedeute hier, dass der Protagonist offenbart, wie er als Adoleszenter regelmäßig die Eltern beim Liebesspiel belauschte. Um anschließend ausgiebig zu masturbieren.

Abgesehen davon gab Haslinger in Lesung und Kommentar Kostproben seiner Kunst der Figurenzeichnung sowie der Verquickung vermeintlich unterschiedlichster Handlungsstränge. So erzählt „Das Vaterspiel“ gleich drei Familiengeschichten, wobei Humor, Ernsthaftigkeit und Schrecken erstaunlich einträchtig nebeneinander stehen. Mit der furiosen Pointe, dass der stoffelige Ich-Erzähler, der an seinem zutiefst sozialdemokratischen Vater genauso krankt wie an seiner eigenen Unfähigkeit, sich mit diesem auseinander zu setzen, ausgerechnet im alten litauischen Judenvernichter, dem des Protagonisten amerikanische Ex-Geliebte ein Versteck baut, eine Vaterfigur findet. Verdreht sind die Welten. Und glatteisig. Womit wir, musikalisch gesprochen, bei einer Art Leitmotiv der zu Ende gegangenen „Literatour Nord“ angelangt wären.

Auch wenn's nur ein ausschnitthafter Eindruck ist, scheint die Zeitgeschichte sich wieder nachhaltig in die deutschsprachige Romanschriftstellerei eingeschrieben zu haben. Oft in der Form, dass sich – wie neben Haslinger auch bei Ulrike Kolb und Marcel Beyer zu beobachten – die späten 60er und die frühen 70er Jahre als Spiegelfläche transgenerationeller Konflikte präsentieren. Es geht um Erinnerung, um kollektive Gedächtnis- und Vergessensleistungen.

Dies ist wohl der deutlichste Eindruck, den die diesmalige „Literatour Nord“ zu vermitteln wusste. Und daran zeigt sich, dass das Konzept eben mehr beinhaltet, als ein einverständiges Schaulaufen – weil Dichter eben von Lesungen leben und nicht von verkauften Büchern. Die Zusammenschau von sechs Werken zeigt Korrespondenzen und Unterschiede auf. Und sie ist in der Lage, das hiesige Literaturpreissystem wenigstens ein biss-chen transparent zu machen. Wer denn nun für preiswürdig gehalten wird und wer weniger, ist kaum eindeutig zu bestimmen, wie sich in den Gesprächen vor und nach den Lesungen zeigte.

Für die Literatur ist das gut. Weil man nämlich darüber streiten und diskutieren kann. Ob man in der Jury sitzt oder nicht, ist schließlich gar nicht so wichtig. Trotzdem darf man gespannt sein, wem die Juroren im Mai den Preis verleihen werden. Und sich freuen auf die nächs-te Literatour-Auflage.

Denn auch die wird vermutlich wieder äußerst elegant (und kaum akademisch) zu belegen wissen, dass deutschsprachige Literatur spannender, witziger, kurz: interessanter ist als der mediokre Ruf, der ihr bisweilen vorauseilt.

Tim Schomacker