Rückkehr zum Wesentlichen

Nach Wochen voller Zweifel und Niederlagen besinnt sich Martin Schmitt rechtzeitig zur WM in Lahti auf seine Stärken und gewinnt so etwas überraschend den Titel von der Großschanze

von FRANK KETTERER

Man darf sich Reinhard Heß getrost als einen vorstellen, der manches schon erlebt hat. Bereits zu DDR-Zeiten stand er inmitten anderer Skisprungtrainer auf einer jener Tribünen am Schanzenrand, winkte mit einem schwarzrotgoldenen Fähnchen – damals freilich noch mit Hammer und Sichel verziert –, und ließ sich von Wind und Schnee manch eisige Furche ins kantige Gesicht schneiden. Hammer und Sichel sind freilich längst vom Fähnchen verschwunden, aber Hess steht immer noch da und winkt, um seinen Springern das Signal zu geben zum Sprung hinab in die Tiefe. Man sieht dann immer, wie Heß mitfiebert: Wie er sich vor Anspannung auf die Lippen beißt beim Anlauf, wie er den mächtigen Oberkörper mitwiegt beim Flug – und wie er nach der Landung wahlweise mit dem Kopf wackelt oder die Fäuste ballt, je nachdem von welcher Güte der Sprung gerade war.

Am frühen Montagabend war noch anderes, Seltenes zu beobachten bei Reinhard Heß. Feucht schimmerten da seine Augen, und der Trainer wollte hernach erst gar nicht verhehlen, dass ein paar Tränen über seine Backen geronnen waren: „Ich musste ein bisschen wischen“, gab Heß also zu, weil Glück und Rührung ihn einfach übermannt hatten, nachdem nahezu Wunderbares geschehen war auf der großen WM-Schanze von Lahti. Denn richtig damit gerechnet hatte keiner im deutschen Springerlager: dass Martin Schmitt, der viel gefeierte und in dieser Saison doch wankelmütig gewordene Überflieger aus dem Schwarzwald, ausgerechnet beim Saisonhöhepunkt würde zurückfinden können zum Erfolg. Und dann legte der 23-Jährige beim ersten WM-Entscheid der Springer doch einen Wettkampf hin, der furioser nicht hätte sein können: 124,5 Meter flog Schmitt im ersten Durchgang, was ihn weitengleich mit dem Finnen Janne Ahonen und hinter dem Polen Adam Malysz (126 m) zunächst auf Platz drei platzierte. Das führte dazu, dass Schmitt am Ende des Finales als Erster der großen drei hinabsegeln durfte – und seine Konkurrenten schocken konnte mit fantastischen 131 Metern und somit Schanzenrekord. Ahonen brachte es anschließend nur noch auf 125,5 m und somit Rang drei; und auch Malysz, der so überirdisch anmutende Seriensieger dieser Saison, blieb danach mit 128,5 m hinter Schmitt, in der Endabrechnung dünne 2,8 Punkte.

„Ich bin selber überrascht“, gab der Deutsche, der als erster Weltmeister überhaupt seinen Titel von der Großschanze verteidigen konnte, später zu, weil der Pole Malysz ihm im Lauf der Saison doch allzu heftig den Rang abgesprungen hatte als Überflieger. Ziemlich unvorbereitet hatte Schmitt das getroffen, entsprechend heftig dürfte es seine Psyche durcheinandergewirbelt haben: Plötzlich nicht mehr Erster zu sein, sondern seinen Meister gefunden zu haben – gerade Siegertypen können an so etwas zerbrechen. „Wenn die Ergebnisse ausbleiben, gewinnt man nicht an Selbstvertrauen“, sagte später auch Schmitt.

Der junge Schwarzwälder, von den Medien längst zum Popstar hochgejazzt und von zahnbespangten Teenies hierzulande per Poster übers Bett gepinnt, ist nicht zerbrochen, sondern hat, von Trainer Heß zur Besinnung ermahnt, sich ganz offenbar noch rechtzeitig auf das Wesentliche konzentriert: Weit ab von WM-Rummel und Medien hielten die deutschen Springer in den Tagen vor dem Wettbewerb in Lillehammer ein Geheimtraining ab. „Wir haben etwas probiert und es hat geklappt“, erzählte Schmitt nach seinem Sieg. Weil dies auch für Sven Hannawald (6.), Alexander Herr (7.) und Michael Uhrmann (13.) galt, dürfen sich Trainer Heß und seine Jungs nun auch beim heutigen Mannschaftsspringen durchaus Hoffnungen machen.