Joschka Fischer sucht den Alltag

Bei seinem USA-Besuch versucht Fischer, sich nicht vom Ermittlungsverfahren beeindrucken zu lassen. Im Mittelpunkt der Gespräche steht die Raketenabwehr. Der Außenminister hofft, auf Umfang und Ziele von NMD Einfluss nehmen zu können

aus Washington PATRIK SCHWARZ

Er wird Madeleine vermissen, keine Frage. Darum steht Joschka Fischers Freundin und frühere Außenminister-Kollegin Albright auch gleich an Nummer zwei auf dem Terminkalender für den wichtigsten Tag seines Washington-Besuchs: nach dem Jogging, aber vor den Treffen mit US-Vizepräsident Richard Cheney, Präsident Bushs Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice und Albrights Nachfolger im State Department, Colin Powell.

„Wenn ich jetzt sage, ich treffe Madeleine zum Frühstück, dann lachen Sie wieder“, meinte Fischer grinsend bei einem Abendessen mit Journalisten – eine Anspielung auf die Frage, ob er vor 28 Jahren mit dem späteren RAF-Mitglied Margrit Schiller an einem Frühstückstisch saß.

Joschka Fischers schwarzer Humor hat einen politischen Hintergrund: Der Außenminister will Spekulationen gar nicht erst aufkommen lassen, ob das gegen ihn laufende Ermittlungsverfahren der Frankfurter Staatsanwaltschaft wegen uneidlicher Falschaussage womöglich seine Arbeit im Dienste der Nation beeinträchtigt.

Seit am 20. Januar in Washington George W. Bush das Ruder übernahm, haben die Außenpolitiker im Bundeskanzleramt und in Fischers Ministerium hart gerackert. In den ersten Wochen der Bush-Regierung schien es, als hätte die rot-grüne Koalition in Berlin noch keinerlei Vorstellung, wie sich die Bundesrepublik zum umstrittensten Projekt der konservativen Administration stellen soll: dem Plan eines nationalen Raketenschilds (National Missile Defence, NMD). In Berlin herrschte Skepsis vor angesichts eines drohenden neuen Rüstungswettlaufs, aber auch ein verfrühter Fatalismus, an der Entscheidung des großen Bruders jenseits des Atlantik nichts mehr ändern zu können.

Inzwischen waren Kanzlerberater Michael Steiner, Fischers Staatssekretär Wolfgang Ischinger und sein Politischer Direktor Klaus Scharioth auf Erkundungstour in Washington. „Die hören wirklich zu“, war der übereinstimmende Eindruck, den die Deutschen von ihren amerikanischen Gesprächspartnern mitbrachten. Im Ergebnis keimte in Berlin die Hoffnung, es lohne sich durchaus, den eigenen Einfluss in Washington geltend zu machen. So schälen sich jetzt erstmals die Umrisse einer deutschen Position zu NMD heraus – und ergeben ein etwas tiefenschärferes Bild der Ideen, die Joschka Fischer seinen amerikanischen Kollegen in den vertraulichen Gesprächen vortragen wird.

Ein grundlegender, wenn auch stiller Schwenk vollzog sich in der deutschen Haltung: Zwar hält Fischer das amerikanische Beharren auf NMD weiterhin für unüberwindbar, doch wird der Außenminister zunehmend optimistischer, wenigstens auf Umfang, Ausstattung und Zielsetzung des Raketenschilds Einfluss nehmen zu können. „Auch in Washington wird gesagt, wir müssen nichts überstürzen“, berichtet ein einflussreicher Diplomat, „kann man da die Zeiten nicht nutzen für ganz mutige Abrüstungsschritte?“

Völlig abwegig ist die Idee nicht. Der russische Sicherheitsberater Sergej Iwanow hat drastische Kürzungen bei der Zahl der Atomraketen ins Gespräch gebracht. Gleichzeitig wird in Berlin „dankbar“ registriert, dass auch Präsident Bush gerade eine Generalinventur der Nukleararsenale beider Seiten vorschlug. Der einzige Haken dabei: Russland möchte auf Raketen nur verzichten, wenn die USA auf NMD verzichten. Bush dagegen kann sich den Abbau von Atomwaffen nur vorstellen, wenn im Gegenzug der Raketenschild seinem Land neue Sicherheit bietet. Trotzdem, wo so viel in Bewegung ist, so das deutsche Kalkül, lassen sich womöglich Geschäfte auf Gegenseitigkeit abschließen: Die neuen Risiken durch NMD könnten sich dann durch mehr Sicherheit anderswo erträglicher gestalten.

In Regierungskreisen hat man dem Außenminister deshalb einen kleinen Sack mit Spielmaterial gefüllt, welches Fischer im Gespräch mit Bushs Vertrauten auf den Tisch schütten kann. Das brisanteste Stück im Sack trägt den Namen CTBT. Der „Comprehensive Test Ban Treaty“, ein umfassendes Verbot von Atomtests zur Waffenentwicklung, wurde vom demokratischen Präsidenten Bill Clinton zwar noch unterschrieben, doch sein konservativer Nachfolger hat soeben das Ratifizierungsverfahren gestoppt. Könnten Fischer und Bundeskanzler Gerhard Schröder die USA an diesem Punkt zum Umdenken bewegen, würde die rüstungskritische Parteibasis von Sozialdemokraten und Bündnisgrünen ihnen eine deutsche Unterstützung von NMD womöglich nachsehen.

„Ein Teststoppverbot ist (für uns) ein ganz wichtiger Gesichtspunkt“, heißt es darum in Fischers Delegation. „CTBT muss ratifiziert werden – auch wenn das (in der Bush-Regierung) nicht auf große Gegenliebe stößt“, heißt es noch kategorischer im Kanzleramt. Der Verhandlungspoker mit George W. Bush hat begonnen.