77.000 Selbstankläger

Aktivisten aus verschiedenen Demokratie- und Menschenrechtsvereinen der Türkei versuchen, durch ein verbotenes Buch die Staatssicherheitsgerichte lahmzulegen.

ISTANBUL taz ■ Etwa 200 Menschen versammelten sich am Dienstagmorgen vor dem Istanbuler Staatssicherheitsgericht. Sie wollten vernommen und angeklagt werden, weil sie ein verbotenes Buch mit herausgegeben haben. Damit stehen sie nicht allein: Insgesamt 77.000 Menschen in der gesamten Türkei haben sich selbst angezeigt.

Die Geschichte begann vor rund fünf Jahren, als der bekannteste Schriftsteller der Türkei, Yașar Kemal, angeklagt und verurteilt wurde, weil er in einem Artikel für den Spiegel die Kurdenpolitik der türkischen Regierung scharf kritisiert hatte. Etliche Kollegen, Schriftsteller, Journalisten und Fernsehleute solidarisierten sich mit Kemal, dem eine Haftstrafe dann auch erspart blieb. Der inkriminierte Artikel Yașar Kemals wurde zusammen mit anderen verbotenen Schriften in einem Buch veröffentlicht, es wurde nach möglichst vielen Herausgebern gesucht – mit Erfolg. Vor dem Staatssicherheitsgericht in Istanbul warteten am Dienstag „Delinquenten“ aus allen Kreisen der Bevölkerung. Von einem Anwalt Abdullah Öcalans bis zu einer Gruppe kopftuchtragender junger Studentinnen war alles vertreten. Die Initiative wird deshalb so breit unterstützt, weil von der Einschränkung der Meinungsfreiheit potenziell alle betroffen sind. Grundlage dafür sind der § 312 des Strafgesetzbuches und die Antiterrorgesetze. Șanar Yurdatapan, einer der Organisatoren der ganzen Aktion, hofft, damit die Abschaffung dieser Gesetze beschleunigen zu können. „Was wollen sie mit 77.000 Herausgebern machen? Es gibt maximal 70.000 Gefängnisplätze in der ganzen Türkei“.

Am liebsten wären die Staatssicherheitsgerichte gar nicht tätig geworden, doch die Organisation der Herausgeber schickte extra alle Namen und Anschriften ans Gericht. Am Dienstag behalfen sich die Staatsanwälte des Staatssicherheitsgerichts damit, immer fünf Selbstbezichtiger gleichzeitig vorzuladen und sie eine standardisierte Erklärung unterschreiben zu lassen. Damit ihnen die Arbeit nicht ausgeht, bereiten Yurdatapan und Freunde eine Neuauflage des verbotenen Buches vor.

JÜRGEN GOTTSCHLICH