Das Leben ist eine Maulschelle

Das Abaton gräbt Gold: Eine Reihe mit frühen Filmen von Ken Loach  ■ Von Georg F. Harsch

Dass britische Filme, die sozialrealistisch daherkommen, in den letzten Jahren auch hierzulande so populär waren, liegt unter anderem an der cleveren Synthese dieser Filme: Mit einer Ästhetik, die offensiv mit ihrem sozialen Gewissen hausieren geht, konnten die totale Flexibilisierung der Arbeitskraft (Ganz oder gar nicht) oder eine nordenglische Version der Just-Do-It-Ideologie (Billy Elliot) propagiert werden.

Die Erkenntnis, dass die endlosen Reihenhäuser britischer Arbeitersiedlungen und Unterklassen phantastisches Material für kluge Filme abgeben, verdanken wir auch Ken Loach. Den Vorwurf, neoliberale Pädagogik zu betreiben, kann man ihm aber beim besten Willen nicht machen. In Deutschland wurde der mittlerweile 65-Jährige erst 1991 mit seinem Bauarbeiter-Film Riff-Raff bekannt.

Es sind aber Loachs Arbeiten aus den 60er Jahren, die für das britische Kino stilbildend waren, und im letzten Jahr plötzlich wieder irgendwo zwischen dem Dritten Mann und Trainspotting in der lis-tensüchtigen britischen Pop-Presse unter Best British Film of the Century auftauchten. Nun zeigt das Abaton in den nächsten beiden Wochen einige dieser frühen Filme, die allesamt hierzulande nie im Kino zu sehen waren.

Das größte Ereignis in dieser Reihe ist sicherlich Loachs erster erfolgreicher Spielfilm Kes von 1969. In diesem Epitom der Spülstein-Schule findet der 11-jährige Billy, Prügelknabe der Klasse und Sohn einer alleinerziehenden Mutter, einen jungen Falken, den er abrichtet und sich als Haustier hält. Seine Hobby-Falknerei liefert ihm die erste befriedigende Objektbeziehung seines Lebens und befreit ihn kurzzeitig aus der materiellen wie spirituellen Armut des Lebens in der Bergarbeiterstadt Barnsley in Yorkshire.

Unsentimentaler und treffender hat man diese Symbolik wahrscheinlich noch in keinem Film gesehen. Dass und wie der Falke am Ende vom großen Bruder grausam geschlachtet wird, zeigt mindes-tens auf, wo man sich den lange aufbewahrten „Zahme Vögel-Wilde Vögel„-Spucki hinkleben kann. Wie der junge David Bradley die Hauptrolle und den ganzen Film ausfüllt, ist, um es in der Diktion von Kaufvideo-Verpa-ckungen zu sagen, atemberaubend. Am Ende bleiben die ZuschauerInnen allein mit der Hoffnungslosigkeit der drittweltartigen Zustände, die bis heute die englische Peripherie prägen.

Dazwischen feiert der Film aber auch die hellen Momente dieses Lebens, ringt der grau-grünen Tristesse von Barnsley wunderschöne Bilder ab. Und wer die ehemaligen Zeitsoldaten, die an Schulen Sport unterrichten, schon immer gefürchtet hat, kann vielleicht sogar über Billys Sportlehrer beklemmt lachen, wissend, dass diese Leute immer gewinnen.

Das Lachen vergangen ist dem britischen Fernsehpublikum '66, nachdem es Loachs ers-ten Beitrag zur vielbeachteten BBC-Serie „Wednesday Plays“ gesehen hatte. Cathy Come Home verfolgt als Cinema Vérité-artiges Dokudrama, gespickt mit Voice-Over-Zitaten aus Zeitungen, die Abwärts-Spirale einer jungen Frau, ihrer Kinder und ihres Mannes in die Obdachlosigkeit.

Auch hier zeigt sich die aufregende Stärke des unsentimentalen Blicks, der sich zwar dem Opfer-Pathos verweigert, Systematiken und deren Agenten aber nicht karrikierend, sondern um so klarer zeigt. Es tauchen immer weitere Vermieter, Sozialarbeiter oder ein bürgerlicher Mob auf, die der am Boden liegenden Cathy noch einen Tritt versetzen. Die Wohnghettos von East London und ihre BewohnerInnen sind gar nicht swinging, sondern befinden sich noch in den Nachwehen des Zweiten Weltkriegs. Das Fernsehspiel löste eine landesweite Betroffenheitswelle aus, die zur Gründung der Obdachlosen-Hilfeorganisation Shelter und später auch zur Änderung des Mietrechts führte.

Nachdem Loach aufgrund einer privaten Tragödie in den 70ern lange Zeit pausiert hatte, wurde es in der Folge für ihn aufgrund seiner unzweideutigen Parteinahme gegen den Thatcherismus problematisch. The Gamekeeper von 1979, über einen arbeitslosen Stahlarbeiter, der einen Job als Wildhüter bei einem Adligen annimmt, ist einer von nur zwei Spielfilmen, die er unter den schwierigen Arbeitsbedingungen zwischen 1979 und 1988 realisieren konnte.

Aber verhungern musste Loach nicht. Wer sich in den 80ern in England wunderte, warum die Werbespots für McDonalds manchmal so gut waren, sei hiermit informiert, dass Loach eben auch nur im falschen Leben arbeitet. Die Werbespots gibt es in der Reihe leider nicht zu sehen. Sie wird nächste Woche fortgesetzt, unter anderem mit den Dokumentarfilmen über Arbeitskämpfe, die der Regisseur zur selben Zeit drehte. Bevor also hoffentlich bald sein in Amerika entstandener Film Bread and Roses von 2000 zu sehen sein wird, sollte die seltene Gelegenheit genutzt werden, mit Loachs frühen Arbeiten echte Perlen des engagierten europäischen Kinos zu sehen. Vielleicht sieht dann „Ganz oder Brassed Elliot“ auch wieder anders aus.

Kes: Do, 20 Uhr + So, 11 Uhr; The Gamekeeper. Sa, 13.15 Uhr, Di + Mi, 17 Uhr; Cathy Come Home: Mo, 13 Uhr, alle Abaton; die Reihe wird nächste Woche fortgesetzt