Mit Vittel zur Ekstase

■ Im Schlachthof gastierte das texanische Rock'n'Roll-Quintett „At The Drive-In“ und feierte einen feinen, schmutzigen, krachenden und energiegeladenen Liederabend

Auf die Bühne, Stecker rein – Rockmusik! Wen interessiert da noch das Geschrammel von gestern: Hardcore, Metal, Punk und so, ziemlich laute Schule. Und nun halt das: At The Drive-In. Ein Quintett aus El Paso, benannt nach einer staubigen texanischen Frittenbude, die zum Porno-Kino umgebaut worden ist. Allenfalls eine verdörrte Eidechse kreuzt hier mal den Heimweg, „a desolate area“ sagt Sänger Cedric Bixler. Raserei entsteht hier nicht einfach so. Dafür muss man schon selber sorgen.

500 Konzerte in einer Handvoll von Jahren pflastern ihren Weg durch immer größer werdende Hallen. Vor einigen Monaten reichte noch der Magazinkeller des Schlachthofs. Nun platzt selbst die große Kesselhalle aus allen Nähten. „The Flamingo Massacres“ aus Nürnberg wärmen an. Ein Schlagzeug, zwei Bässe; drei junge Frauen mit dünnen Stimmen und gehemmt wirkender Punkrockattitüde. Trotzdem: Da war schon was – nur was?

Auf die Bühne, Stecker rein – At The Drive-In! Keine zwei Momente später brennt die stickige Luft. Bixler schreit wie am Spieß, Leadgitarrist Omar Rodriguez zuckt gewaltig, Drummer Tony drischt heftig sein Arbeitsgerät. Kurz darauf erblickt der genervte Cedric Bixler im Publikum randalierendes Volk – nicht sein Ding, diese „fucking ass-holes“, denen er nach dieser rüden Beschimpfung noch erklärt, dass sein Quintett Rock'n'Roll feiern und nicht Hardcore-Machotum bedienen will.

Rock'n'Roll? Nun, Chuck Berry sucht man hier wohl vergeblich. Aber vielleicht sah der große Little Richard so aus, damals, als Musik noch verboten klingen konnte und das Fußtrampeln auf Klaviertasten als unanständig galt. Im Schlachthof bleibt an diesem Abend alles heil, obwohl Bixler seinem Mikrofonständer diverse Flugeinlagen gönnt und Rodriguez' Gitarre einige Male gefährlich nah an seinem riesigen Wuschelkopf vorbei rotiert. Nach dem Motto „zeig' mir fünf freie Quadratzentimeter und ich mach' dir den Handstand“ fegt Bixler über Boxen und Verstärker, und doch ist immer und überall der gereadezu missionarische Ernst zu spüren, mit dem hier bei 100 Dezibel authentisches Lebensgefühl produziert wird.

Schnellste Beats, die einmal durch alle Genres vom Reggae bis Heavy Metal getaucht sind, treffen in den Texten auf schräge Existenzen und viel Verzweiflung. Das drohende Nichts überall, es will bezwungen werden, auch oder gerade, wenn man gerade erst 20 Jahre alt ist. Sowas liest man nur im Booklet der neuesten CD „Realationship of Command“, mit der „At The Drive-In“ einen Großteil des Abends bestreiten. Auf der Bühne dominiert hingegen lärmende Lautstärke im Fugazi- oder Foo Fighters-Stil, eingebettet in einer großformatigen Gitarrenklangwand, wo beinahe jedes Wort als schriller Schrei daher kommt.

Es wird eine feine, schmutzige Stunde von fünfen, die auszogen, unbändige Energien in Tönen zu bündeln. Und plötzlich muss ich älterer Herr ganz unpassenderweise an Witthüser & Westrup denken, zwei deutsche Marihuana-Folkbarden aus den 70er Jahren mit viel Reimzwang in der Stimme. In einer Ballade über eine junge Motte heißt es da, sie fliegt zu nah an eine Flamme, „glüht kurz auf und verbrennt“. Ganz so wird's vielleicht Bixler und Rodriguez gehen: Zwei unter Dauerstrom stehende, schmächtige, bleiche Hemden ohne Arsch in der Hose, die allabendlich die totale Erschöpfung zum ästhetischen Prinzip erheben. Andererseits: Wer wie diese Jungs gleichzeitig Vittel-Quellwasser auf der Bühne trinkt, hat nicht vergessen, dass es ein Leben nach dem Hörsturz gibt. zott