Eine Stadt sucht ihren guten Ruf

„Wir sollten nicht im Zorn Freiheitsrechte über Bord werfen“, mahnt der Landesvater die aufgebrachten Sebnitzer. Aber die Wut lässt sich nicht zügeln

aus Sebnitz HEIKE HAARHOFF

Aus den Basketballkörben an der Wand wachsen blassgelbe Seidenlilien und Stoffrosen in zartem Orange. Üppiger Efeu rankt sich aus Kunstblumengebinden über die behelfsmäßige Bühne, die die Sporthalle von Sebnitz an diesem Abend zur Stadthalle macht. Der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf kommt an diesem 20. Februar zur Bürgerversammlung in die Kunstblumenstadt in der Sächsischen Schweiz, und er kommt in ernster Mission.

Es geht um Geld für eine Stadt, an der Rufmord begangen wurde, sagt der Saaldiener, an einem Tag im vergangenen November, als die größte Boulevardzeitung des Landes die Geschichte vom Tod eines Jungen im Freibad von Sebnitz neu erzählte: als rassistischen Mord an dem Sohn eines deutsch-irakischen Apothekerpaars unter den Augen einer ganzen Stadt. Was selbstverständlich alles erstunken und erlogen war, sagt der Saaldiener, von Renate Kantelberg-Abdulla, der Mutter des ertrunkenen Kindes, und von den Medien.

Zwar ist das Ermittlungsverfahren der Dresdner Staatsanwaltschaft wegen des Todes von Joseph Abdulla noch nicht abgeschlossen. Zwar konnten drei rechtsmedizinische Gutachten keine äußere Gewalteinwirkung an dem Körper des toten Kindes nachweisen und halten einen plötzlichen Badetod, ausgelöst durch eine Herzmuskelschwäche, für die wahrscheinlichste Ursache. Allerletzte Zweifel aber konnten auch sie nicht ausräumen. Doch solche Kleinigkeiten interessieren weder den Saaldiener noch die anderen 500 Menschen, die in die Halle drängen. Der Schaden ist da. Für die Stadt, versteht sich.

Halb sieben. Der Ministerpräsident lässt auf sich warten. Also stellt schon mal das Kinder- und Jugendblasmusikorchester sein Können unter Beweis. Im weiteren Verlauf des Abends wird der ehrenamtliche Orchesterleiter die Berufung eines fest angestellten Orchesterleiters für Sebnitz fordern. Zur Wiederherstellung des verloren gegangenen Images, was denn sonst.

Großer Applaus

Dann ist es sieben, und Kurt Biedenkopf rauscht unter großem Applaus in den Saal. Im Schlepptau hat er Gerald Thalheim, den parlamentarischen Staatssekretär im Bundesverbraucherschutzministerium, mit dem zusammen er unter noch größerem Applaus die bereits bewilligten und künftigen finanziellen Hilfen der Landesregierung wie der Bundesregierung für Sebnitz erläutern wird (siehe Kasten), von der Tourismusförderung über den Schüleraustausch bis zur Unterstützung des Hauses der Kunstblume. Schließlich gilt es, Sebnitz für den Vorwurf des kollektiven Rassismus zu entschädigen.

„Unvermittelt und ohne Vorankündigung brach es am 23. 11. über uns herein“, sagt der Oberbürgermeister Mike Ruckh. „All unsere Arbeit drohte im moralischen Abgrund zu versinken.“ Kann man einem Oberbürgermeister es verübeln, dass er kein Wort des Mitgefühls für eine Familie findet, die ihr Kind verloren hat? Dass er vergisst, an die drei Tatverdächtigen zu erinnern, die voreilig und tagelang in Haft genommen wurden – und zwar von der Justiz und nicht etwa von den Medien oder den Kantelberg-Abdullas? „Immerhin“, sagt er dann, und der Ministerpräsident nickt beifällig, „sind die Ermittlungsbehörden jetzt der Wahrheit ein Stück näher.“ So als habe die Wahrheit schon immer fest gestanden.

Im Saal sieht man über solch mangelndes Fingerspitzengefühl hinweg. Es ist ja auch keiner da, dem das auffallen könnte: Die drei unschuldig Inhaftierten haben es vorgezogen, sich dem Spießrutenlauf entlang den Kameras nicht auszusetzen. Renate Kantelberg-Abdulla, die seit November mehr als 100 Drohbriefe erhalten hat und neulich einen, der mit Patronenhülsen gefüllt war, ist ebenfalls zu Hause geblieben.

Schiefe Vergleiche

„Sie hat hier auch nichts zu suchen“, sagt ein Stadtverordneter der CDU. „Mit der haben wir kein Mitleid.“ Schlimm genug, dass die SPD-Frau sich weigere, ihr Mandat im Stadtrat niederzulegen. „Entziehen“, tönt es, müsse man es ihr dann eben. „Richtig“, donnert ein älterer Herr ins Saalmikrofon, und darüber hinaus müsse man sich fragen, wer diese Frau eigentlich gewählt habe. „400 Sebnitzer, heißt es, sollen es gewesen sein, da fragt man sich doch: Woher kommt so ein Ergebnis?“

Kurt Biedenkopf müht sich derweil, die Diskussion um den Mandatsentzug zu zügeln: „Wir sollten nicht im Zorn Freiheitsrechte über Bord werfen, die wir selbst erkämpft haben.“ Sein Appell bleibt ungehört. Der katholische Pfarrer will ihm unterstützend zur Seite springen und dabei nicht merken, wie er mit seinen schiefen Vergleichen die Stimmung bloß noch mehr aufheizt. Die Sebnitzer, sagt er, müssten sich mit ihrer Situation jetzt abfinden. „Das ist so wie bei Krebskranken: Die sind auch erst zornig und lernen dann, mit ihrer Situation umzugehen.“ Und was die Andündigung von Renate Kantelberg-Abdulla angehe, sie werde ein viertes Gutachten im Ausland beauftragen, um die Ermordung ihres Sohns zu beweisen: einfach überhören, rät er. „Ich sehe mir ja auch nicht jeden schlechten Film an.“

Das reicht zur Anstiftung. Die anfängliche Zurückhaltung ist dahin. Die Kantelbergs, die das „Unglück“, den „schweren Schicksalsschlag“ über Sebnitz gebracht hätten, ruft ein älterer Herr im grauen Pullunder, „die glauben, die könnten sich hier benehmen wie im Irak, wo man Steine werfen kann“. Anstatt ihnen „seit Monaten einen Polizeiwagen vor die Tür zu stellen“ und den Marktplatz von Sebnitz für viel Geld von einer Videokamera überwachen zu lassen, solle lieber eine Disco gebaut werden „für unsere Jugend“, die schließlich auch „gebrandmarkt“ worden sei: „Von Ihnen, meine Damen und Herren Reporter“, ruft eine Frau mit erregter Stimme, „dabei tragen einige von Ihnen doch auch kurze Haare und Ohrringe“. Für solche Journalisten müsse nunmehr ein Mediengesetz her, „wo die Politik ihnen dann verbietet, dass sie solche Dinge schreiben“. Da, endlich, greift Staatssekretär Thalheim ein: „Wer in der DDR aufgewachsen ist, weiß, warum die Politik nicht vorgeben darf, was in der Zeitung steht.“

Auch Kurt Biedenkopf gefriert das Lächeln. Die „bürgerliche Disziplin“, die „Ruhe und Gelassenheit“, für die er die Sebnitzer eingangs so gelobt hat, drohen sich zu verflüchtigen. Und den Vorschlag, die Bild-Zeitung könne die Apotheke der Kantelberg-Abdullas aufkaufen, auf dass diese dann endlich verschwänden, findet er nicht richtig komisch. Schon gar nicht, wo die Beziehungen zu Bild doch wieder besser geworden sind. Oder hat die vielleicht nicht erst am Montag großformatig das „Wander-Paradies Sebnitz“ auf ihren Reiseseiten angepriesen?

In Rage geredet

Es nützt nichts. Es ist vorbei mit der „Selbstbegrenzung der Menschen“, die Kurt Biedenkopf noch zu Beginn der Bürgerversammlung ausgemacht hatte. Die Menschen haben sich in Rage geredet, und nun muss „der Fall Joseph“ plötzlich für alles herhalten, was einem schon immer auf der Seele brannte.

Für all die Ungerechtigkeit seit der Wende, die den Sebnitzern widerfahren ist, die Arbeitslosigkeit, die mittlerweile jeden fünften in der strukturschwachen Region trifft, den Zusammenbruch der DDR-Industrien, die Randlage an der Grenze zu Tschechien, aufgrund derer man so schnell vergessen wird. Das alles, finden 500 Menschen im Saal stellvertretend für die Mehrheit der 10.000-Einwohner-Stadt, muss sich nun ändern, es müssen mehr Arbeitsplätze her, vor allem für Jugendliche. Ein Unternehmer beklagt mangelnde Wirtschaftsförderung. Das örtliche Gymnasium wollte schon immer bilingualen Unterricht anbieten und nutzt die Gunst der Stunde, diese Forderung nun vorzutragen. An der Mittelschule wird eine Schulstation benötigt, Sozialarbeiter gibt es auch nie genug.

Nachdem alle ihre Wünsche vorgetragen haben, erhebt sich ein alter Mann. Er sei Nachbar der Kantelberg-Abdullas, erwähnt er, als sei bereits die räumliche Nähe zu diesen Menschen ein Grund, finanzielle Hilfen fordern zu können: „Ich möchte in meinem Haus eine Kaukasusstube einrichten.“ Erwartungsvoll blickt er zum Podium, bevor er den Saal verlässt. Zum Abschied schallt ihm die Stimme von Tamara Danz aus den Lautsprechern hinterher: „Ein Lied für den Aufruhr, dass er nicht ruht; ein Lied für die Knechte des Geldes, der Macht; Ein Lied für die Erde, dass sie uns erträgt.“