Blaue Blume, ertränkt in Bier

■ Wäre das Wort fetzig nicht so hässlich, dürfte man die Inszenierung „Disco Pigs“ im Jungen Theater als fetzig rühmen

Das Wort „schweinetittengeil“ ist nicht so wahnsinnstittenoriginell, nicht wirklich, zumindestens nicht richtig wirklich. „Känguruhhodenscharf“ hingegen wäre schon aparter. Und erst recht „beckerspermaknackig“. Oder vielleicht doch lieber „hängebauchprall“. Nein? Finden Sie nicht so gelungen? Die zwei Disco-pigs Schwein und Ferkel rotzen jedenfalls ein fröhliches „schweinetittengeil“ ins weltalltiefe Dunkel der riesigen Industriehalle am Güterbahnhof hinein. Oder: „Wir zwei killen diese Stadt, Roger.“ Sie lassen sich aber auch das verehrungswürdige Wörtchen „nimmer“ auf der Zunge zergehen oder kämpfen sich „Seit an Seit“ durch die Nächte Pork Citys. „Nimmer“ ist vermutlich prä-lutherisch und bei „Seit an Seit“ denkt man an die edle Ritterschaft von König Artus' Tafelrunde. Die Bruchstück-Sequenz „Freiheit – verdammt – nur ich – nur Ferkel“ hingegen könnte glatt ein Stück Lyrik der inneren Befindlichkeit der 70er Jahre sein. Und wenn die Liebe plötzlich ganz blau wird, dann pirscht sich die Sprache an die herzblutenste deutsche Romantik heran, an Novalis und seine Blaue Blume.

Zwar handelt es sich bei „Disco Pigs“ des von Thomas Ostermeier nach Deutschland eingeschleppten Iren Enda Walsh vermutlich um die 100ste Theatervariante zur Shell-Studio über die heutige Jugend. Doch verzwirbeln sich darin High und Low ganz wunderbar zu einer Kunstsprache. Manche Sätze wirken wie vom verpissten Asphalt gekratzt, andere wie Einflüsterungen von Shakespeares Geist. Vermutlich hegt Walsh eine lobenswerte Liebe zum Proletarischen, so wie er dessen Sprache überhöht.

Wir sprechen hier so viel von Sprache pur, weil „Disco Pigs“ kein richtiges Theaterstück ist. Es passiert nichts. Statt Warten auf Godot, wird aber viel erzählt, jede Menge Geschichten von ekligen Zungenküssen, romantischen Taxifahrten, kniffligen Diskoschlägereien und anderen erhebenden Unerheblichkeiten. Und es ist nicht immer ganz klar, ob sie erfunden sind oder wirklich. Es sind die Zwillinge Schwein und Ferkel, die in guten und bösen Erinnerungen schwelgen. Sie sind ein Herz und eine Seele, und manchmal auch ein Körper, findet zumindest Schwein, wenn er davon fantasiert – oder auch nicht – mit Ferkel zu schlafen.

Die Bremerhavener Inszenierung vom letzten Jahr hat die beiden auf ein Sofa gezwängt und ihnen einen TV-Apparat vor die Nase gesetzt. Achtung, couch potatoes. Die junge Anja Wedig dagegen, Freunden des Jungen Theaters bekannt durch ihre Klasse-Regiearbeit für „Familienfest: Belgrad“ und als Kreischzicke in „Shoppen und Ficken“, gönnt ihren Protagonisten den größten Teil der Halle zur Ausbreitung ihrer Innenwelten. Ein Strickmützchen und eine Art Netzpulli sind die einzigen Insignien des Jugendkults, welche die beiden mit sich herumzuschleppen haben. Wedig wollte das Stück entschlacken von konkreten soziologischen Bezügen, ein bisschen zumindest. Entsprechend strich sie auch den Text zusammen. Es sind schließlich nicht nur pubertierende irische Provinz-Underdogs, die nach der Anleitung von Kampfsport-Büchern durch die Welt trudeln und tanzen. Deshalb darf Ralf Knapp trotz dezentem Bauchansatz und fortgeschrittener Glatzenbildung den 17-jährigen Schwein spielen. Abgesehen von einer zerfetzten Riesengebärmutter, einem zum Kickboard umfunktionierten Infusions-Tropf und einem Trampolin zum Erklimmen höherer Ebenen des Daseins, ach ja, nicht zu vergessen den 9.648.276 Bierflaschen, verzichtet Wedig auf eine Möblierung dieser Anekdotensammlung. Umso üppiger ist die akustische Ausstattung des Stücks. Schwein und Ferkel sprechen mitten hinein in den prallen Beat einer Musik, deren Bezeichnung sich Menschen gehobeneren Alters besser versagen. Vielleicht ist es House, vielleicht Techno.

Aufgrund der Abwesenheit eines Bühnenbilds dürfen Knapp und Liz Hencke das machen, was Schauspieler des Jungen Theaters gemeinhin am liebsten machen: Toben. Und diesmal ist alles perfekt durchchoreografiert. Sogar das baal-sche Hinterkippen von Bier im Hektoliterbereich hält just jene Balance aus Naturalismus und Artifiziellem, welche die Sprache vorgibt. Knapp gibt das Tränensäckig-Diabolische, Liz Hencke Grazie und Kraft. Wenn sie discotanzt – und sie kann und darf das – mischen sich naiver Übermut, neurotische Hyperaktivität, Lebenslust und ein Schuss Verzweiflung sehr variabel. Die Konstitution für dieses Sporttheater hat sie aber nicht wie Ferkel durch Kampfsport erworben, sondern durch regelmäßige Exerzitien mit den Sieben Tibetern. Und irgendwie hat auch dieses High-speed-Stück etwas wunderbar Meditatives. Fast wie bei einem social-beat-slam wird irgendwann aus Freude, Liebe, Verzweiflung pure Musik. Und der Zuschauer hoppelt vergnügt vor sich hin auf seinem als Stuhlersatz fungierenden Gymnastikball und knabbert an jenen neumodischen Kartoffelchips mit Brausepulver, die im Eifer bei einem von Ferkels Euphorieexzessen am Zementboden landeten. bk

25., 27., 28.2. 20.30 Uhr, 23., 24.2. 22 Uhr. Karten: Tel.: 700 141