Die Kopfstände des Erdmagnetfelds

Das magnetische Feld der Erde ist nicht konstant. Es schwankt beträchtlich und kann zeitweise ganz verschwinden. Viele Fragen sind noch offen. So kann nur vermutet werden, was es heißt, wenn der Schutzschirm für eine längere Periode löchrig wird

Es gibt Gebiete mit stärkeren und schwächeren Feldern und sogar lokale Umkehrungen des Feldes

von CLAUDIA BORCHARD-TUCH

Vögel navigieren mit dem Erdmagnetfeld, die Menschen machen es ihnen seit Jahrhunderten mit Hilfe des Kompasses nach. Seit 3,5 Milliarden Jahren liegt das Magnetfeld der Erde schützend um sie und bietet einen Wall gegen die hochenergetische Strahlung aus dem Kosmos. Ohne ein kräftiges Magnetfeld wäre die Erde dem Sonnenwind schutzlos ausgesetzt. Das Magnetfeld fängt die geladenen Teilchen, die ständig aus der Sonne herausgeschleudert werden, weit draußen im All ein und leitet sie um der Erde herum. Dennoch können starke solare Teilchenstürme das Erdmagnetfeld massiv erschüttern. So verbrachten 1989 Millionen Kanadier viele Stunden in Kälte und Dunkelheit, weil ein Sonnenorkan die Stromtransformatoren lahm gelegt hatte.

Man kann sich das magnetische Feld als Kranz vorstellen, dessen Strahlen die Erde auf der einen Seite verlassen, um auf der anderen Seite wieder einzutauchen – als hätte die Erdkugel einen Stabmagneten verschluckt. Der magnetische Nordpol liegt an derjenigen Stelle, über der eine frei bewegliche Nadel eines Kompasses gerade nach unten in die Erde zeigt. Der Südpol ist der Punkt, an dem die Kompassnadel nach oben zeigt. Die Lage der magnetischen Pole der Erde stimmt nicht mit den geographischen Polen überein. Der magnetische Nordpol liegt zur Zeit vor der Westküste von Bathurst Island in den kanadischen Northwest Territories, knapp 1.290 Kilometer nordwestlich der Hudson Bay. Der magnetische Südpol liegt heute am Rand des antarktischen Kontinents in Adélieland, ungefähr 1.930 Kilometer nordöstlich von Little America. In der Nähe der magnetischen Pole sind Kompasse nahezu nutzlos.

Eigentlich ganz einfach, doch der Schein trügt: Das Erdmagnetfeld ist vielmehr unstetig, wechselhaft und launisch. Aus Beobachtungen von Satelliten, historischen Aufzeichnungen und alten Gesteinen ist schon länger bekannt, dass es Gebiete mit stärkeren und schwächeren Feldern und sogar lokale Umkehrungen des Feldes gibt. Die Lage der Magnetpole ist nicht fest und weist von Jahr zu Jahr beachtliche Schwankungen auf. Messungen zeigen, dass das Magnetfeld sich mit einer Geschwindigkeit von 19 bis 24 Kilometern pro Jahr westwärts bewegt.

Ein weltweites Beobachtungsnetzwerk bestimmt die Wanderung. Langsame Veränderungen in der Form des Feldes haben ihre Ursache offenbar im Erdmantel – was sich dort genau abspielt, wissen die Geowissenschaftler noch nicht. Im Durchschnitt alle 200.000 Jahre kippt sogar das Erdmagnetfeld um. Allerdings hat es in der Erdgeschichte auch sehr viel schnellere Wechsel und Perioden über Millionen Jahre gegeben, in denen das Feld stabil war. Warum das so ist, weiß man nicht genau.

Man weiß, dass die Erde in ihrem Inneren einen festen Eisenkern hat, der von einem Meer aus flüssigem Eisen umgeben wird. Es ist ständig in Bewegung und erzeugt einen elektrischen Stromfluss und damit auch das Magnetfeld – ähnlich den Vorgängen in einem Fahrrad-Dynamo. Die chaotischen Konvektionsströme im Geodynamo können sich innerhalb weniger Jahrhunderte so stark ändern, dass das Feld eigentlich umkippen müsste. Der stabilisierende Faktor ist offenbar der innere Kern im Zentrum des Planeten. Während die flüssigen Eisenströme im äußeren Erdkern das Magnetfeld verzerren und verdichten, wird der innere Kern nur vom Feld durchdrungen. Sein elektrischer Widerstand bremst jegliche Ladungsänderungen aus dem unsteten äußeren Kern, in dem das flüssige Metall strömt. Deshalb scheitern die meisten Umpolungsversuche und deswegen dauert eine Umkehr 5.000 und nicht 500 Jahre – so lange braucht der innere Erdkern nämlich, um sich auf die geänderten Verhältnisse einzustellen.

Neuere Untersuchungen von Restmagnetismus im Gestein und in magnetischen Anomalien auf dem Meeresboden haben gezeigt, dass das Magnetfeld der Erde in den letzten 100 Millionen Jahren seine Polarität mindestens 170-mal geändert hat. Doch wie das im Detail geschieht, ist unklar. Rätselhaft bleibt auch, warum die magnetischen Pole bei einer Feldumkehr entlang zweier bevorzugter Längengrade wandern – einer verläuft durch Nord- und Südamerika, der andere durch Asien – und sich ihren Pfad nicht zufällig wählen.

David Gubbins, Professor an der Universität Leeds, ist seit Jahrzehnten einer der wichtigsten Experten auf dem Gebiet des Erdmagnetismus. Doch Einzelheiten für die beobachtete Wanderung der Magnetfelder und vor allem die Umkehrung des Magnetfeldes kann auch Gubbins nicht liefern. Er vermutet, dass die Wärmeverteilung im Erdmantel eine Schlüsselrolle spielt. Seismische Messungen zeigen, dass der Erdmantel unter der Schwachstelle im Südatlantik relativ heiß zu sein scheint. Das müsste nach den Überlegungen von Gubbins dazu führen, dass die Konvektionsströme im äußeren Erdkern dort von unten nach oben verlaufen, was das Magnetfeld schwächen würde.

In den letzten 300 Jahren hat die Stärke des Erdmagnetfeldes um 10 Prozent abgenommen. Hielte dieser Trend an, wäre das Feld in 3.000 Jahren verschwunden. Es gab in der Erdgeschichte viele kurzzeitige Perioden der Größenordnung 100 bis 10.000 Jahre, in denen es nahezu kein Magnetfeld gegeben hat – immer kurz vor einer Pol-Umkehr. Geht die Erde auf eine solche Umpolung zu? Verschwindet das Magnetfeld in 3.000 Jahren? Und wie lange? Welche Auswirkungen hat das, vorher und nachher?

Es gibt genügend Fragen, mit denen sich die Wissenschaft beschäftigen muss. Zur Zeit kann man nur vermuten, welche Auswirkungen eine Schwächung des Magnetfeldes hat. Gubbins ist überzeugt, dass das Leben auf der Erde von einer höheren Strahlungsdosis wahrscheinlich nicht bedroht wäre. „Außer vereinzelten Einzellern sind bei den bisherigen Umkehrungen vermutlich keine Lebewesen ausgestorben“, meint Gubbins. Selbst für Tauben, die sich mit dem Magnetfeld der Erde orientieren, sieht er keine Probleme: „Die nutzen schließlich mehr als ein Navigationssystem.“

Empfindlicher dagegen ist die Technik. Schon heute kann die sensible Elektronik auf Satelliten durch den Einschlag geladener Teilchen beschädigt werden. Vor allem hoch fliegende Satelliten leiden unter dem Teilchenbeschuss. An einer schwachen Stelle des Erdmagnetfelds über dem Südatlantik konnte der inzwischen stillgestellte Röntgensatellit Rosat keine wissenschaftlichen Messungen vornehmen, wenn er diese Anomalie mit ihrer erhöhten Strahlung durchquerte – das machte immerhin ein gutes Viertel seiner Flugzeit aus. Und die Elektroindustrie müsste neue Handys erfinden: Denn auch Funkverbindungen werden durch den Protonenbeschuss gestört.

Vor ein paar Monaten starteten die Satellitenmissionen Champ und Cluster-II, die wichtige Aufschlüsse über das Erdmagnetfeld liefern sollen. Champ wird fünf Jahre lang alle 93 Minuten die Erde umkreisen. Seine Route in 450 km Höhe führt genau über die Pole. Der Satellit soll Ergebnisse liefern, die 10- bis 100-mal genauer sind als bisherige Messungen. Während Champ für das Magnetfeld zuständig ist, werden die vier zylinderförmigen Cluster-Satelliten vor allem den Sonnenwind genauer erforschen. Durch ihre Konstellation im All in Form einer Dreieckspyramide können sie dabei die Vorgänge erstmals dreidimensional erfassen.

Die Geophysiker sind überzeugt, ihre Erkenntnisse für eine breite Anwendung nutzbar machen zu können. So hoffen sie, bei exakter Kenntnis des Magnetfeldes Schiffe und Flugzeuge navigieren oder auch Tiefbohrungen am Verlauf der Feldlinien ausrichten zu können.

Die genaue Vermessung des Magnetfeldes eröffnet zudem einen Blick ins Erdinnere. Denn die magnetischen Signale zeigen Massenbewegungen im Inneren der Erde an. Geophysiker würden gerne herausfinden, wie sich diese Massen genau bewegen. Doch bis in den rund 3.400 Kilometer tiefen Bereich aus flüssigem Eisen können sie nicht vordringen. „Das tiefste Loch, das wir für die Forschung haben, ist gerade mal zehn Kilometer tief“, erklärt David Gubbins. „Also müssen die Forscher versuchen, aus dem Verhalten der Magnetfelder auf die Bewegungen im Inneren der Erde zu schließen. Das Erdmagnetfeld ist ein Fenster zum Erdkern – wenn auch eines der dreckigsten Fenster, durch das ich je gesehen habe.“