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Eskapismus unterm Eiffelturm

Wie sich Frankreich von seinem größten Interpreten verabschiedet: Als Chansonnier genoss Charles Trenet Legendenstatus, trotz Kollaboration und „Sittenaffäre“ stieg er zum Volksheld auf. In seinem Leben spiegelte sich das Jahrhundert, sein Tod vereint das Land noch einmal über alle Lager

von DOROTHEA HAHN

Das ganze Land hört noch einmal wie zum Abschied seine Lieder. „Douce France“ – süßes Frankreich – pfeift der Busfahrer. „L’Ame du poète“ – die Seele des Dichters – rezitiert der Staatspräsident. „La Mer“ – das Meer – summt der Kommunistenchef. „Y’a de la joie“ – da ist Freude – schmettert der Chansonfreund.

Zu Charles Trenet, der heute in der Pariser Kirche Madeleine eine religiöse Feier bekommt, bevor er auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise verbrannt wird und seine Asche die Heimreise in seine Mutterstadt Narbonne antritt, hat jeder Franzose eine Beziehung. Als er in der Nacht zu Montag im Alter von 87 Jahren starb, änderten die Radio- und Fernsehsender ihre Programme. Bis Mitternacht gingen die mehreren hundert Hits unter seinen 1.000 Chansons vielfach durch den Äther. Für einen Tag und eine Nacht verdrängten sie alle anderen Ereignisse in Frankreich und im Rest der Welt aus den Medien. Der „Artiste“ war tot. Eine Epoche war zu Ende.

Alle, die im Schau- und im Politgeschäft Rang und Namen haben, traten vor die Mikrofone, um sich ein letztes Mal in seinem Abglanz zu sonnen. Er „war einer der seltenen Künstler, die einer Epoche Farbe und Atmosphäre geben und die ihre Träume nähren“, dichtete Jacques Chirac ihm hinterher. „Mit der Magie seiner Worte hat er uns in den Garten geführt, in dem die Gefühle leben“, verabschiedete sich der sonst so trockene Premierminister Lionel Jospin. Am nächsten Tag gab es im ganzen Land keine einzige Zeitung, die nicht mit der Nachricht aufmachte, die längst alle kannten. „Das süße Frankreich geht“ titelte France Soir, „Der Poet ist verschwunden“ der Figaro. Alle druckten ganze Liedtexte ab. Obwohl die längst in den Schulbüchern stehen.

Kollektive Andacht

Posthum sorgte Charles Trenet für eine nationale Kommunion, die alle Unterschiede und jeden Streit vergessen ließ – die dunklen Kapitel der Sängerbiografie inklusive. Zurück blieb das Frankreich, das Trenet 70 Jahre lang im Swing und Music-Hall unter dem Filzhut, der ihn stets begleitete, mit einer roten Nelke im Knopfloch in seinem Bariton besungen hat. Ein Land mit plätschernden Bächlein und tanzenden Eiffeltürmen, mit Küssen unter dem Kirchturm, lächelnden Jugendlichen und ab und zu einem Bummelzug, der sich durch blumige Felder tutete. Ein Land voller Nostalgie und Harmonie. Und ganz ohne Atomkraftwerke, Hochgeschwindigkeitszüge und brennende Autos in Trabantenstädten.

Trenet hat das 20. Jahrhundert durchquert wie kein anderer französischer Chansonnier. Alle – von Yves Montand über Leo Ferré, Serge Gainsbourg und Georges Brassens bis hin zu Charles Aznavour – verstanden sich als von ihm geprägt und beeinflusst, auch wenn sie in ihrer eigenen Karriere ganz andere Töne anschlugen. „Ohne Trenet“, sagte Jacques Brel einmal, „wären wir alle Buchhalter.“ Henri Salvador, der Schnulzenstar aus Französisch-Guyana, nennt ihn den „Sonnenkönig des Chansons“. Trenets Weisen, die sowohl in einer Bar in New York wie auch in einem Supermarkt in Djakarta als vertraute Klänge aus den Lautsprechern kommen, wurden vielfach nachgesungen. „Carte de Séjour“, eine Rockband maghrebinischer Migrantenkinder, adaptierte in den 80ern das Stück „Douce France“; Jack Lang und Trenet verteilten die Platte 1986, als über ein neues Ausländergesetz abgestimmt wurde, im Parlament.

So einig in ihrer Hymne auf Trenet waren sich die Franzosen nicht immer. Während der Besatzung galt er bei „Radio Londres“, dem Sender der Résistance, als Antisemit. Nach der „Befreiung“ im Sommer 1944 schimpfte man ihn einen „collabo“, einen Kollaborator, und Trenet musste fluchtartig Europa verlassen. Zehn lange Jahre während des beginnenden Kalten Krieges blieb Trenet damals in Amerika. Erst nachdem er sich dort, im Norden und Süden des Kontinents, einen Namen als „Botschafter des französischen Chansons“ erarbeitet hatte, und nachdem sich zu Hause die Wogen der „Säuberung“ geglättet und alte Kollaborateure und alte Résistants wieder zueinander gefunden hatten, um gemeinsam gegen den Kommunismus zu kämpfen, kehrte Trenet zurück. Im Triumph.

Er hatte tatsächlich mehr für die deutschen Besatzer getan als andere Chansonniers seiner Generation. Nachdem er einen Ariernachweis bis in die vierte Generation geliefert hatte – angeblich um sich gegen den Vorwurf zu wehren, er sei jüdischer Abstammung –, trat er vor deutschen Soldaten in Uniform in den „Folies-Bergères“ auf, sang bei einem Gala-Abend in der Deutschen Botschaft und sorgte mit Konzerten vor französischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern im Berliner „Wintergarten“ für den Erhalt der Moral. Trenet lieferte die Musik des leichtfüßigen, feiernden Frankreich, die die Besatzer brauchten. Als im Sommer 1942 Zigtausende Juden deportiert wurden, schrieb er sein „Douce France“ über das sorgenlose Leben im Land und seine „Marche des Jeunes“, in der es heißt: „Ah! Was tut es gut, unser Alter zu haben. Ah! Was ist es schön, 20 zu sein.“

In das zweite lange Tief seiner Karriere fiel der Chansonnier Anfang der 60er-Jahre. Wegen einer „Sittenaffäre“. Sein früherer Geliebter, ein 19-jähriger Koch und Chauffeur, zerrte ihn 1963 wegen Missbrauchs Minderjähriger vor Gericht. Damals galt die Volljährigkeit mit 21 Jahren. Trenet kam mit einer kurzen Gefängnis- und einer hohen Geldstrafe davon. Aber die Öffentlichkeit verstieß ihn. Erst in den 70er-Jahren tauchte er wieder auf. Und begann seinen dritten – und letzten – triumphalen Aufstieg in Frankreich. Auf dieser letzten Wegstrecke sammelte er die höchsten Orden der Republik und füllte die renommiertesten Konzerthallen Frankreichs. Seine Mutterstadt Narbonne benannte die Straße vor seinem Elternhaus nach ihm und änderte sogar die Nummerierung, damit Trenet seine Glücksnummer 13 an die Hausfassade heften konnte. Eine einzige nationale Anerkennung blieb ihm verwehrt: Die Academie Française – die Versammlung der „Unsterblichen“ – lehnte ihn ab.

Provinzler in Paris

Der Notarssohn führte ein Leben zwischen Provinz und Kapitale. Seine ihm sehr nahe stehende Mutter siezte er bis zu ihrem Tod. In Paris lebte er als Bohemien. Feierte ausschweifende Feste, frequentierte in den 30er-Jahren die künstlerische Avantgarde und machte aus seinem schwulen Privatleben keinen Hehl. Bis zum Schluss und stets bis in die frühen Morgenstunden blieb er fester Bestandteil des Pariser Nachtlebens. Dabei begleitete ihn stets ein „persönlicher Sekretär“. Der Letzte von ihnen trat am Montagmorgen vor die Medien, um mitzuteilen, dass Trenet „ganz sanft gegangen“ sei. Der Chansonnier selbst, der binnen weniger Monate einen zweiten Schlaganfall erlitten hatte, habe eigenmächtig entschieden, die Behandlung abzubrechen.

Im Konzertsaal hatte Trenet 70 Jahre lang instinktsicher den richtigen Ton seiner Landsleute getroffen. 1936, als in Frankreich die Volksfront von Léon Blum regierte, als der bezahlte Jahresurlaub und die 40-Stunden-Woche eingeführt wurden und viele Arbeiter erstmals das Meer und die Berge entdeckten, wurde sein „Y’a de la joie“ zur Hymne. Überall im Land bildeten sich Fanclubs: die Trenetistes. 1939 landete er mit „Boum“, wenige Tage vor dem deutschen Angriff auf Polen, einen Hit, den seine Biografen als musikalische Vorahnung der kommenden Kriegsereignisse verstehen wollen. Damals war „Boum“ die Begleitmusik zu den letzten großen Feten vor der Kapitulation.

Einen untrüglichen Riecher hatte Trenet auch für die richtigen Leute zur richtigen Zeit. Als junger Provinzler im Paris der 30er-Jahre stieg er in den Freundeskreis um Jean Cocteau, Max Jacob und andere Surrealisten ein. Schon nach wenigen Monaten trat er in dem Duo „Charles et Johnny“ in dem Szenelokal „Fiacre“ auf und brachte seine erste Platte auf den Markt. In späteren Jahren pflegte er vor allem seine Beziehungen zur Creme der französischen Sänger. Zuletzt stieg er Ende vergangenen Jahres bei seinem Freund Aznavour während eines Konzertes in Paris auf die Bühne.

Auch Politiker, die ihm nützlich sein konnten, hat Trenet stets gesucht und gefunden. Dass schloss manch radikale Kehrtwende ein – die letzte, als er 1981 den Wahlkampf des rechtsliberalen Präsidentschaftskandidaten Giscard d’Estaing gegen den Sozialisten Mitterrand unterstützte, nur um sieben Jahre und eine „Ehrenlegion“ später Mitterrand mit einer aktualisierten Fassung seines „Douce France“ als Kampagnenmelodie zur Wiederwahl zu verhelfen. Mitterrands Sieg feierte Trenet an dessen Seite. Hinterher versicherte der Chansonnier Journalisten, dass er sich „nicht für Politik“ interessiere.

Tatsächlich war Trenet stets vor allem mit seiner Musik beschäftigt. Bis zum Schluss schrieb er Lieder. Und bis zum Schluss behielt er die Manie, im Studio bei Aufnahmen immer nur einmal, maximal zweimal zu singen. Bei seinem letzten Konzert, ein Novemberabend 1999 in der Pariser „Salle Pleyel“, sitzen im Publikum die Enkel seiner allerersten Fans aus den 30er-Jahren. Mittendrin braucht der alte Herr einen Stuhl. Sitzend singt er weiter. Mit Filzhut, roter Nelke und weit aufgerissenen Augen besingt er ein glückliches Frankreich. Im Swing. Lachend. Wenige Wochen später erscheint die CD des Konzertes. Darauf klingt seine Stimme wie immer. So werden ihn die Franzosen in Erinnerung behalten.

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