■ H.G. Hollein
: Großstadtpoesie

Die Stadt, die mich in ihren Mauern weiß, ist voller Dichter mit gar mächt'gem Fleiß. Der urbane Flaneur muss nur die Augen offen halten, und schon springt ihm allenthalben Gebrauchslyrik vom Feinsten entgegen. Ein Verslein wie „Ob steil oder gerade, Dächer deckt Meister Baade“ verrät so mancherlei. Erstens das unbändige Vertrauen Meister Baades in die eigene Leistungskraft, zweitens die radikale Verweigerung jeglicher professioneller PR-Beratung. Hier wirbt der Chef selbst. Versmaß hin oder her, Hauptsache der Endreim stimmt. „Reinigungsartikel, groß und klein, kauft man bei reinline güns-tig ein“ stammt aus ähnlich munter hämmernder Dichterschmiede, deren Talente, scheint's, sonder Zahl sind. Mit erstaunlich leichter Hand wortmetzen sie überaus prägnant, eingeengt lediglich durch die strenge Form des Zweizeilers. Aber Gott sei Dank bricht sich mancherorts der ungestüme Wortfluss trotzdem eine Bahn. „Ohne Lübcke – ohne Liebe wär das Leben viel zu trübe“ steht auf dem Kundenklo von Toom an der Max-Brauer-Allee. Aber eben nicht nur das. „Es spricht sich rum von Mund zu Mund, der Lübcke hält das Volk gesund“, prangt gleich darunter weiß auf blau. Der Lübcke, wir ahnen es, vertreibt Präservative, was die Mund-zu-Mund-Metapher denn auch ein wenig aus dem Rahmen gerutscht wirken lässt. Von der inhärenten Vorstellung einer völkischen Hygiene mal ganz abgesehen. Aber wo der Liebe trübe Triebe sprießen, ist der Reimeslust nun mal kein Einhalt zu gebieten. Auf dem 12 x 15 Zentimter großen Aufkleber am Präservativ-Automaten ist schließlich noch Platz für eine launig-flotte Zugabe. „Hätt' er ein Condom genommen, wäre das nicht vorgekommen.“ Variationen über ein Thema fürwahr. Oder der werbetaktisch-dichterische Overkill schlechthin. Vergegenwärtigt man sich dazu noch ein stickig-warmes, urinschwangeres Pissoir, will die verkaufsfördernde Stimmung trotz der geschliffenen Lübckeschen Stanzen nicht so recht aufkommen. Irgendwie möchte ich einfach nicht in der Haut dieses Oldesloer Dichterfürsten ste-cken. Nicht mal teilweise.