Schnee, der auf Kontexte fällt

Ein starke Gemeinschaft: Auf einem Berliner Symposion machte die Kulturwissenschaft Werbung in eigener Sache

Anfang der Woche bekam ich einen Brief von meiner Krankenkasse. Man scheint dort sehr glücklich, auch über mich. Seit zehn Jahren bin ich Mitglied, und dafür wollte man sich bedanken. Eine starke Gemeinschaft, erläuterte die Technikerkasse bei dieser Gelegenheit, entstehe durch Verbundenheit in Denken und Handeln. „Menschen aus technischen und naturwissenschaftlichen Berufen“ haben die TK erfolgreich gemacht.

Natürlich handelt es sich hier um ein Missverständnis. Ich habe Germanistik, Philosophie und Hispanistik studiert. Bei der TK war ich schon vor 20 Jahren; 1991 war allein der Zeitpunkt, wo man sich entschied, mein Studium nicht weiter zu subventionieren und mich als Vollzahler zu führen. Ich habe überlegt, der TK einen Antwortbrief zu schreiben, aber was hätte ich sagen sollen? Dass man auch als Geisteswissenschaftlerin eine Festanstellung bei der Solidargemeinschaft taz kriegen kann? Jedenfalls wünschte man mir für die Zukunft Gesundheit.

Die Selbstlegitimierungskrise der Geisteswissenschaften hat mit der aktuellen Popularisierung der „Life Science“ einen Höhepunkt erfahren. Seit selbst die ureigene Frage der Philosophie – Wer bin ich? – von der Genforschung beantwortet wird und die Humanwissenschaften auf Biowissenschaften reduziert scheinen, kriegen die Geisteswissenschaftler kalte Füße. Nicht, weil sie zur komplexen Frage des Menschseins nichts mehr zu sagen hätten. Sondern weil der Eindruck herrscht, es wolle keiner mehr hören. Selbst die Umbenennung in Kulturwissenschaft hat da nicht viel genützt.

Um die Frage der öffentlichen Vermittlung von Erkenntnis ging es auf einem von der Deutschen Forschungsgesellschaft ausgerichteten Symposion zu „Aktuellen Tendenzen kulturwissenschaftlicher Forschung“. In der Berliner Staatsbibliothek trafen sich Vertreter von 35 geisteswissenschaftlichen Sonderforschungsbereichen mit dem erklärten Ziel „die gegenwärtige kulturwissenschaftliche Forschung nach ihrer gesellschaftlichen Orientierungsfunktion zu befragen“. Oder, wie Prof. Erika Fischer-Lichte es formulierte, nach der „anthropologischen Wende“ der Geisteswissenschaft „der Öffentlichkeit unser Selbstbildnis zu vermitteln“.

Das Bild, das um neun Uhr morgens vermittelt wurde, entsprach hübsch dem Elfenbeinturmhocker-Vorurteil. Dass Kultursenator Christoph Stölzl nicht erscheinen konnte, weil er im Schnee stecken geblieben sei, wurde akzeptiert, obwohl man nur einen Blick auf die Straße werfen musste, um zu sehen, dass der vereinzelte Schneeregen keinesfalls als nicht zu bändigende Naturgewalt auftrat. Nun ja, wie sagte der Vorsitzende des Wissenschaftsrats, Prof. Dr. Winfried Schulze, später? „Wir müssen mit der Pluralisierung von Deutungen leben.“

Im weiteren Verlauf wurde dem Anschein der Weltfremdheit jedoch erfolgreich entgegengewirkt. Sonderforschungsbereiche (Sfb) sind solche universitären Bereiche, in denen mit Sondermitteln fachübergreifend an einem Thema gearbeitet wird. Historiker, Soziologen, Psychologen, Linguisten, Kunstwissenschaftler, Informatiker, Neurowissenschaftler u. a. betreiben transdisziplinäre Forschung, in deren Vordergrund die Kontextualisierung des untersuchten Gegenstands steht.

In Berlin stellten sie sich in vier Gruppen vor: „Identität und Wandel“, „Medien und Performanz“, „Wissen und Erinnerung“ sowie „Anthropologie und sprachliche Kommunikation“. Die große Anzahl der Teilnehmer und kurze Zeit verhinderten eine tief greifende Auseinandersetzung, so dass es auf der vermittelten Ebene im Wesentlichen beim Erkenntnisstand „Identitäten werden konstruiert!“ „Öffentliche Aufführungen werden inszeniert!“ „Erinnerung ist nicht kontextfrei!“ oder „Kommunikation ist komplex!“ blieb. Dort aber, wo Beispiele gegeben wurden – etwa die aufschlussreiche Geschichte vom Bismarck-Denkmal in Kamerun und einem steinernen Elefanten in Bremen – wurden sofort komplexe Geflechte deutlich.

Strategien der Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit wurden nicht erarbeitet. Im Gegenteil machte das Symposion einmal mehr deutlich, wie defensiv und apologetisch sich die Geisteswissenschaften artikulieren. Eine Einleitung wie „Was unseren Auftritt rechtfertigt, vielleicht sogar interessant macht“ klingt im außerakademischen Raum eben wie „im Grunde kümmert das eh kein Schwein“. Statt Antworten gibt es „Versuche von Antworten“, und die Gegenstände, über die man spricht, lassen sich selbstredend nie fassen. Immerhin ist der nichtexistente Schnee am Abend auch weg, und ein Staatssekretär spricht im Namen Stölzls. „Ihre Arbeit verdient in jeder Hinsicht Respekt und Unterstützung“, sagt er. Ich befürchte, meine Krankenkasse findet das alles nicht überzeugend. CHRISTIANE KÜHL