Zum Friedhof der Eisberge

Eine Wanderung im Torres del Paine Nationalpark im Süden Chiles: Das Gebiet wird von türkisfarbene Seen, einem steil aufragenden Bergmassiv und leuchtend blauen Gletschern geprägt

Kein Bus fährt dort hin, kein Hubschrauber landet, keine Pauschaltouristen – wer die blauen Eismassen sehen will, muss wandern

von MARTIN KALUZA

Die Welt hat abgelegene Ecken. Nachdem Magellan 1520 den Süden des heutigen Patagonien entdeckt hatte, schickte die spanische Krone Ende des 16. Jahrhunderts einen wackeren Haufen, um die Gegend in Besitz zu nehmen. Als es drei Jahre nach ihrer Ankunft den englischen Freibeuter Thomas Cavendish an dieselbe Stelle verschlug, hatte von den ursprünglich 300 Siedlern nur ein einziger überlebt – die anderen waren verhungert. Es dauerte gute 250 Jahre, bis schließlich eine chilenische Militärexpedition die Besiedelung an der Magellanstraße erneut in Angriff nahm. Heute ist das Gebiet ein beliebtes Touristenziel.

In den Reiseführern steht, man sollte auch im Sommer mit wetterfester Kleidung anreisen. Gut dreieinhalb Flugstunden von der Hauptstadt Santiago entfernt stolpern wir über das Rollfeld von Punta Arenas, mit seinen 100.000 Einwohnern die südlichste Stadt der Welt. Noch am selben Tag sehen wir – zwei Brüder auf Reisen – uns in der Nähe eine Pinguinkolonie an, aber eigentlich sind wir schon auf dem Sprung: Unser Ziel ist der Nationalpark „Torres del Paine“, ein Gebiet etwa so groß wie Luxemburg, von Wanderwegen durchzogen. Türkisfarbene Seen; ein steil aufragendes Bergmassiv; leuchtend blaue Gletscher – um das zu sehen, bindet man sich schon mal die klumpigen Wanderschuhe um!

Das Zelt haben wir dabei, im Supermarkt decken wir uns gründlich mit Essen ein. So etwas wie den 299 Spaniern soll uns in dieser Gegend nicht passieren. In Puerto Natales, dem letzten größeren Ort auf dem Weg zum Park, quartieren wir uns in der „Casa Cecilia“ ein. Die Unterkunft gehört einem schweizerisch-chilenischen Ehepaar und hat einen großen Fernseher, auf dem alle Abenteurer noch einmal europäischen Fußball gucken können, bevor sie aufbrechen. Der Wirt Werner hat eine Abstellkammer voller Isomatten, Zelten und Gaskochern. Wir vervollständigen unser Equipment.

Am nächsten Morgen rast der Bus erst durch die Pampa und windet sich dann unter den aufmerksamen Augen von Guanacos und Nandus über Schotterpisten in den Nationalpark. Die Seen tragen Namen wie Laguna Amarga, Lago Sarmiento und Lago Nordenskjöld. Wir setzen über den Lago Pehoé und sehen vom Deck aus, wie sich der Himmel verfinstert. Hundert Meter Fußweg bis zum nächsten Refugio, einer Art bewirteter Hütte, genügen dem Platzregen, uns zu durchnässen. Das Personal der Hütte wagt eine Wetterprognose: drei Tage Regen. Mein Bruder guckt skeptisch (und er kann ziemlich skeptisch gucken). In Santiago würde jetzt die Sonne scheinen, 30 Grad im Schatten.Wir stülpen Mülltüten über unsere Rucksäcke und machen uns auf in den Regen.

In Patagonien, murmeln wir vor uns hin, hat man praktisch alle vier Jahreszeiten an einem Tag. Wenn in zwei Stunden der Sommer dran ist, müsste der Regen aufhören. Nach anderthalb Stunden Anstieg stemmen wir uns auf einem Pass mit zusammengebissenen Zähnen gegen den Wind. Während rechter Hand über dem 3.200 Meter hohen Cerro Paine Grande die Wolkendecke aufreißt, sehen wir links unter uns bereits den Gletschersee. Im Wasser, von Sedimenten milchig-türkis gefärbt, treiben die ersten Eisberge. Wenig später kommt unser Ziel in Sicht: Der Grey-Gletscher, südlicher Ausläufer der Patagonischen Eisbarriere, dahinter 400 Kilometer Eis.

Kein Bus fährt dort hin, kein Hubschrauber landet, keine Pauschaltouristen – wer die blauen Eismassen sehen will, muss wandern. Drei Tage haben wir eingeplant, und am Ende des ersten erreichen wir den Campingplatz kurz vor dem Gletscher. Nachdem wir das geliehene Zelt zusammengebastelt haben, sehen wir uns stolz um.

Unser Zelt ist mit Abstand das größte am Platz, windschnittig schmiegt es sich an den holprigen Boden. Von innen ist es nicht halb so groß. Auf unserem gemieteten Gaskocher bereiten wir uns einen Tee und eine warme Mahlzeit zu. Es gibt Wiener, und in das siedende Wurstwasser rühren wir Kartoffelbrei. In der Abenddämmerung, die hier, tief im Süden, um diese Jahreszeit erst weit nach neun einsetzt, blicken wir zwischen den Bäumen auf den milchig-grünen See.

Wir überlegen, dass wir ein Feierabendbier verdient haben, und werden im Refugio fündig. Neben Nudeln, Brot und Bier werden hier auch Tetrapacks mit chilenischem Wein verkauft. Eine Handvoll Jugendlicher mit Gitarre hat sich mit Tütenwein eingedeckt. Als wir uns später in unsere Schlafsäcke einschnüren, grölen sie uns mit schmachtenden Schnulzen in den Schlaf. In den meisten geht es um Mädchen, die María heißen.

Am Morgen machen wir uns ohne Gepäck auf den Weg. Von einer Landzunge, nicht weit vom Campingplatz, blicken wir direkt auf die locker zwanzig, dreißig Meter hohe Eiswand des Grey, der hier in den See kalbt. Ein Stück weiter kommen wir an der Seite so nah an den Gletscher heran, dass wir ihn anfassen können. Zurück auf dem Wanderweg kommen wir nach einigem Klettern zu einem Punkt, von dem aus man Kilometer weit über das blaue, verschachtelte Eis sieht. Später haben wir Glück: Wir sehen, wie mit krachendem Getöse ein mächtiger Brocken aus der Eiswand bricht und sich langsam im See zu drehen beginnt.

Am Abend, in der Hütte, erklärt uns ein Geologe, warum das Eis des Gletschers so blau ist: weil blau nämlich seine Farbe ist. Wir stutzen. Viel interessanter sei die Frage, warum es uns sonst weiß oder farblos erscheine. Reines Eis, holt er aus, reflektiert von Natur aus vorwiegend blaues Licht. Im Eis eingeschlossene Luft lässt es weißer erscheinen – und das Eis des Gletschers wurde über zehntausende von Jahren so gründlich komprimiert, dass praktisch keine Luft mehr drin ist.

Vom Campingplatz aus hört man es im Gletscher noch ein paar Mal heftig krachen, und den ganzen Abend treiben surrealistisch geformte, bläuliche Eisskulpturen vorbei. Kleinere Brocken landen am Ufer, und eins von diesen zehntausend Jahre alten Dingern versuche ich so lange zum Schmelzen zu bringen, bis ich mir die Hände an einer Teetasse wiederbeleben muss. Mein Bruder guckt etwas skeptisch, der Kocher faucht in den Wind, und im Hintergrund wird wieder die Gitarre gestimmt.