Normen über Recht und Unrecht

Die Jugendbeauftragten der Polizei in Wandsbek sind keine Streetworker. Auch wenn sie die Sozialarbeit im Viertel häufig mitübernehmen müssen  ■ Von Kaija Kutter

Das Büro der Jugendbeauftragten des Bezirks Wandsbek liegt im vierten Stock der Polizeidirektion Ost. Die steht wiederum an einer typischen Wohnstraße des Viertels: Schlichte Häuserblöcke, tote Grünstreifen, Parkplätze, wenig Platz für Kinder, alles hat seine Funktion. Es gibt keine Löffel im Büro, also muss erst die Milch in die Tasse, damit sie sich mit dem Kaffee mischt. Sympathisch, chaotisch. Der erste Kontakt war bei einer Podiumsdiskussion der GAL über „Jugendgewalt in Wandsbek“ im Dezember. Wie ihr Beitrag denn rüber kam, will Kerstin Behrmann wissen. Sie sei erst ein halbes Jahr im Amt und an Rückmeldung interessiert.

„Ich will weder dramatisieren noch bagatellisieren“, hatte die Hauptkommissarin damals vor der grünen Klientel erklärt und bildete damit zwischen dem Jugendrichter Joachim Katz und GAL-Landeschef Kurt Edler die Mitte. Nicht die Gewalt unter Jugendlichen, sondern deren Wahrnehmung durch die Erwachsenen sei größer geworden, hatte der Richter zuvor erklärt. Die Jugendlichen würden mit dem Gewaltproblem allein gelassen, hatte Edler dem entgegengestellt, Er bemühte sich sich, das Thema auf grüne Art ernst zu nehmen. Neun Monate vor der Bürgerschaftswahl begann damals der Wahlkampf. Da die Zuhörerschaft an jenem Abend fast ausnahmslos älter als 40 Jahre war, kam man der Frage, wie denn die Lage unter Wandsbeks Jugend wirklich ist, nicht näher.

Kerstin Behrmann und ihr Kollege Jörn Blank sitzen an der Quelle. Sie und ihre Mitarbeiter reden mit Kindern und Jugendlichen, das gehört zu ihrem Job. Wenn Kinder eine gravierende Straftat begehen, machen sie einen Hausbesuch, bieten „Hilfe und Norm verdeutlichende Gespräche“ an. Im Rahmen der Präventionsarbeit besuchten Polizisten Wandsbeker Schüler im Unterricht – im vergangenen Jahr 1142 Mal. Sie tun dies in ihrer Freizeit, damit sie nicht zur Anzeige verpflichtet sind, wenn Kinder einen Diebstahl beichten. Es ginge darum, so Behrmann, den Kindern „Normen über Recht und Unrecht“ zu vermitteln. Das werde im Elternhaus zu wenig geleistet. Viele, die Opfer von Straßenraub, dem „Abziehen“, würden, dächten nur, „das probier ich auch“ und würden vom Opfer zum Täter. Behrmann: „Die Grenzen sind fließend“.

Auch wenn laut Statistik in Wandsbek die Kriminalität insgesamt seit 1991 um rund vier Prozent zurückgegangen ist, sieht Behrmann, zu deren Aufgaben auch die Faktenauswertung gehört, „im Bereich Straßenraub ein Problem“. 1991 wurden in Wandsbek 264 Taten angezeigt, 1999 waren es 897. Behrmann: „Wir kommen nicht darum herum, dass Raub ein Verbrechen ist, das gravierende psychische Folgen für das Opfer hat.“ Allerdings ist nicht vollständig aufzuklären, ob es eine faktische Zunahme gibt oder ob nur die Zahl der Taten, die angezeigt wurden, zunehme.

Dazu zu ermutigen, ist auch eine Aufgabe der polizeilichen Jugendarbeit. Behrmann: „Unserer Erfahrung nach wird die Drohung: ,Wenn du zur Polizei gehst, mach ich dich platt' in den wenigsten Fällen wahr gemacht.“ Manche Eltern schießen allerdings auch übers Ziel hinaus. So komme es vor, das Menschen die Polizei einschalten, wenn ein Achtjähriger dem Nachbarjungen einen Ball auf die Nase schießt. Behrmann nennt dies eine „Tendenz zur Verrechtlichung“.

Von Grenzen und Grauzonen ist in dem Gespräch noch mehr die Rede. Es ist lustig, wenn Behrmanns Kollege Jörn Blank einen breitschultrigen Jugendlichen mit Handy in der Hand nachahmt, der angeberisch auf dem Bahnsteig stolziert. Doch die Lage ist ernster. Die Hauptkommissare reden mit den Kids zum Beispiel auch darüber, wie man es vermeiden kann, Opfer einer Straftat zu werden. Blank: „Wenn ich mit teurer Markenkleidung herumlaufe oder mit dem neusten Handy spiele, muss ich bedenken, dass es andere gibt, die sich das nicht leisten können.“ Zur Vermeidungsstrategie gehöre auch, die Straßenseite zu wechseln oder einen Erwachsenen anzusprechen, wenn man sich bedroht fühlt. Oder auch „verächtliches Reden“ zu unterlassen. Man muss nicht über die „Scheißfresse“ eines anderen herziehen und dadurch dessen Ehre verletzen.

Das alles klingt schon verdächtig nach Sozialarbeit, doch Blank schränkt sofort ein: „Die können wir nicht leisten. Dafür sind wir nicht qualifiziert.“ Aber die Kollegen auch der Straße bekämen schon mal „das ein oder andere Schicksal mit“. Blank: „Wenn ein Kind Probleme hat, dann müssen wir auf die Straßensozialarbeiter verweisen. Nur gibt es die ganz selten.“ Und auch die Häuser der Jugend hätten „kein Personal in Hülle und Fülle. Aber wir sind vor Ort.“ Dem Stadtteilpolizist auf der Straße, dem die Probleme eines Kindes nahe gehen, bliebe als formal korrekter Weg nur noch der schriftliche Bericht ans Jugendamt: „Die bekommen in ihren Ortsämtern zwangsläufig weniger mit.“

Als sich Jörn Blank kürzlich auf einen Info-Abend für Eltern in den Walddörfern vorbereitete, fiel ihm auf, dass Kinder aus diesen Vierteln als „Täter kaum auffällig sind“. Seine Erklärung dafür klingt logisch: „Die Jugendlichen in den Randgebieten haben viel Freiraum und große Gärten. Wenn die etwas machen, sieht das keiner, aber in einem Wohnhof in Steilshoop gucken gleich 500 Leute zu.“ Es könne aber auch sein, dass Eltern in den Walddörfern „Probleme auf erzieherische Art lösen“, wo andere die Polizei einschalten.

Blank und Behrmann haben auch die fachliche Aufsicht über den Umgang der Polizei mit Kindern. Sie müssen drauf achten, dass die Vorschriften eingehalten werden. So dürfen beispielsweise Minderjährige nicht im Streifenwagen mitfahren, weil dies zur Stigmatisierung im Umfeld führt. Auch dürfen Einzelfälle nicht an die Medien gehen, weil dies den Kindern sehr schadet und zu Nachahmungstaten führt. Blank kann die Eltern verstehen, die sich an eine Zeitung wenden, weil ihre Kinder bedroht werden und sie sich nicht anders zu helfen wüssten: „Auch wir haben manchmal Probleme, die Entscheidungen der Jugendrichter zu verstehen.“ Manchmal. „Aber wenn wir uns das erklären lassen, erkennen wir, dass die gute Arbeit machen“.

Blank, der in diesen Tagen eine neue Aufgabe bei der Polizei übernimmt, haben die fünf Jahre als Jugendbeauftragter „Spaß gemacht, auch weil man eine Menge bewegen und das Ansehen der Polizei verbessern kann“. Vielleicht auch durch Einsichten, wie er sie formuliert. Er hält nichts von der Diskussion um härtere Strafen und Gesetze. „Es sind gesellschaftliche Bedingungen, die Kriminalität beeinflussen“, ist er überzeugt. Bedingungen wie die Stadtplanung zum Beispiel. Wenn ein neues Wohnviertel entstünde, würde an die Bedürfnisse von Kleinkindern immer gedacht: „Eine Sandkiste steht überall“. Aber damit können Teenager nicht viel anfangen.