: Chemie an Bremens Schulen stimmt nicht
■ Naturwissenschaftliche Leistungsfächer in der Oberstufe finden nur statt, wenn die Behörde eine Ausnahme genehmigt: Die Soll-Zahlen für Leistungskurse werden nirgendwo erreicht
„Der Senat beobachtet den Nachwuchsmangel im naturwissenschaftlich-technischen Bereich mit Sorge“, erklärte der Senat im September vergangenen Jahres. Aus Anlass einer großen Anfrage der CDU-Fraktion führte er weiter aus, man beobachte seit Jahren, dass die Zahl der SchülerInnen, die in der Oberstufe in Bremen Physik oder Chemie als Leistungsfach belegen, „im Ländervergleich unterdurchschnittlich“ sind. In der vergangenen Woche hat im Bildungsressort eine Arbeitsgruppe über den diesjährigen Anmelde-Zahlen gebrütet. Der Befund: Streng nach der Richtzahl, dass Leistungskurse ab einer Größe von 18 SchülerInnen zustande kommen, würde es im gesamten Stadtgebiet keinen einzigen Leistungskurs in Physik und Chemie geben.
Zwar wollen mehrere hundert SchülerInnen, immerhin, solche Leistungskurse belegen – nur sind sie verstreut über die verschiedenen Schulzentren. Zum Beispiel Chemie: Am Gymnasium Hermann Böse Straße hatte die Behörde acht Anmeldungen, am Kippenberg drei, in Horn 14, an der Kurt Schumacher Straße (KSA) fünf, am Schulzentrum Walliser Straße eine, Hamburger Straße acht. Und so weiter. Die Soll-Zahlen werden nirgendwo erfüllt, auch in Physik sieht es „überall zu dünn aus“, sagt Hubertus Reifke, Oberstufenkoordinator am Schulzentrum Hamburger Straße – zugleich so etwas wie der „Koordinator“ für den Bremer Osten. Er bilanziert, das Interesse an naturwissenschaftlichen Fächern sei gering – und zudem das System auch noch so, dass die wenigen dann durchfallen. „Ein dummes System“, sagt Reifke. Das Schulgesetz legt seit 1994 fest, dass jede Schule alle Leistungsfächer anbieten darf. In Englisch und Mathematik oder Biologie funktioniert das, in Französisch, Physik und Chemie nicht.
Vater Hans Knicker, dessen Sohn vor einigen Jahren Physik gewählt hat, das es dann an seiner Schule nicht gab, wollte wenigstens für seine Tochter – Wahlfach Chemie – erreichen, dass die Schulen vorher klären, wo es das eine Leistungsfach sicher geben würde – und wo ein anderes auf wackeligen Beinen steht. Auf seine Anfrage erfuhr er von der Schulbehörde, dass diese keinen Einfluss darauf nehmen könne, wenn jede Schule anfangs alles anbietet – um Schüler erst einmal anzulocken (siehe taz vom 24.1.). Tochter Knicker wählte das KSA und bekam nun per Telefonanruf mitgeteilt: Da wird es ihr LK-Wahlfach Chemie ganz sicher nicht geben.
Die Schulbehörde will jetzt erreichen, dass wenigstens einzelne Schulen im Bremer Osten naturwissenschaftliche Leistungskurse anbieten – obwohl Sollzahlen dort nicht ganz erfüllt werden. Doch bekommen diese Schulen Lehrerstunden nur pro Schüler zugewiesen – eine ausreichende Lehrerversorgung für „Unterfrequenz“-Kurse gibt es nur im Ausnahmefall.
„Schüler wählen in erster Linie eine Schule und wechseln dann lieber das Leistungsfach“, weiß Oberstufenkoordinator Rathje aus langer Erfahrung. An der KSA ist eine Schülerin nun schon von Chemie zu Kunst gewechselt. Wer das Leistungsfach Chemie oder Physik wirklich will, muss sich im zweiten Durchgang deshalb für eine andere Schule entscheiden – im Zweifelsfall für eine, auf die keine FreundInnen mitkommen.
Im Sommer 2002 soll unter dem Stichwort „Profilabitur“ die Wahlfreiheit der Leistungskurse drastisch eingeschränkt werden, um unter anderem das Problem der zu kleinen Leistungskurse aus der Welt zu schaffen. Allerdings regt sich schon heftiger Protest bei den SchülerInnen (vgl. taz 21.2.) und in der SPD. Betroffene wie der Oberstufen-Koordinator Rathje können noch nicht ganz an den Mut der Bildungspolitiker glauben: „Die Wahlfreiheit ist ideologisch hoch besetzt.“ K.W.
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