Das geht niemanden was an

■ In „Heute gehen alle spazieren“ erzählt der Bremer Schriftsteller Martin Brinkmann von der Zeit nach dem Zivildienst: ein amüsanter und doch schwermütiger Roman

Die Schulzeit, da sind sich viele sicher, war doch im Großen und Ganzen eine schöne Zeit. Der Zivildienst sowieso. Und die Studienzeit erst recht. Oder doch nicht? Zumindest über den Anfang des Studiums, einer Zeit voller Zukunftsängsten, spricht man meist nicht so gerne. Martin Brinkmann tut es.

Der Debütroman des Bremer Autors ist nun bei DVA erschienen. In „Heute gehen alle spazieren“ berichtet der Ich-Erzähler von Erlebnissen „zwischen den Zeiten“, vor und während des Studienbeginns. Deren Romaneignung hält sich eigentlich in Grenzen. Vater vertreibt mit einem Brenner Wespen von Mutters frischem Kuchen, Oma will Mutter eine längst vergammelte Banane andrehen. Und das Fazit der Hauptfigur lautet: „Ich weiß schon überhaupt nicht mehr, was mich das jemals anging.“

Auch der Leser weiß bald nicht mehr, was ihn die unzähligen Besuche und Spaziergänge überhaupt angehen. Kaffeetrinken bei Mama und Papa, Besichtigung der alten Schule, Besuch der Schwester, die in Göttingen studiert. Und doch liest man immer weiter. Denn obwohl der seltsame Besuchsfetischist nichts kann, nichts tut und nicht einmal einen Namen trägt, fasziniert er.

Seine Beobachtungen werden stets mit ironischen Wertungen versehen, die Umwelt nur mit Distanz, oftmals Verachtung wahrgenommen: „Hinter einer Holzplatte, auf der eine Kaffeemaschine, Kaffeesahne und Zucker und sonst noch einiges herumstanden, war die Bedienung auszumachen, die ich augenblicklich aus Mitleid und weil ich ihr die Dummheit an der Nasenspitze ansah, zum Teufel wünschte. Grauweißes, kurzgeschnittenes Haar klebte ihr hässlich am Kopf, das Gesicht war faltig, mit tiefen blauen Augenringen“. Zeitweise bekommt er „vor Belanglosigkeit kaum noch Luft“, und mit der schwesterlichen Handtasche assoziiert er „Kondomtäschchen“.

Doch die nahezu arroganten Ansprüche führen zwangsweise zur Selbstzerstörung. Schließlich ist er selbst ein Nichts, steht taten- und willenlos im Abseits des Weltgeschehens. Während er sich über Fährarbeiter, Kranke und Touristen lustig macht, interessiert sich niemand für ihn. Und das zu Recht, denn: „Was soll bloß aus mir werden? Ich bin kurz davor, mit Flennen anzufangen, das ist alles so schwer, so schwer.“ Andere spielen ihre Rolle. Er sieht dabei nur zu, raucht und trinkt so oft Bier, dass es zumindest für eine Karriere als Alkoholiker reichen könnte.

Erst ganz am Ende ist der Antiheld mitten drin im Geschehen. Zum ersten Mal scheint ihn ein Freund gut genug für einen kurzweiligen Ringkampf. Allzu bald aber wird ihm klar, dass es kein Spaß ist: Der Freund „lächelt überhaupt nicht und hält sich das Ohr, das blutet. Vermutlich irgendwas mit dem Ohrring. 'Du hast mir das Ohr eingerissen', sagt er schwer atmend und schaut wütend. 'Scheiße', sage ich.“

Mit nüchtern-lakonischem Erzählstil legt Brinkmann unerbittlich den Identitätskomplex seiner Figur frei. Vielleicht ein wenig zu unerbittlich. Nicht zu verkennen ist aber das beeindruckende erzählerische Talent des erst 24 Jahre alten Bremers. Einfach und doch komplex, ironisch aber nüchtern, amüsant trotz Schwermut: ein großartiger literarischer Sonntagsspaziergang. Johannes Bruggaier

„Heute gehen alle spazieren“, DVA, 160 Seiten, 32 Mark.