DIE GRÜNEN UND IHR ÜBERVATER: EMANZIPATION? JA. VERZICHT? NEIN
: Popstar Joschka Fischer

In diesen Tagen fällt es leicht, sich besser als der deutsche Außenminister zu fühlen. Bei manch einem führt dieses Überlegenheitsgefühl sogar so weit, dass er glaubt, er könne Joschka Fischer endlich dessen Biografie entreißen, eine Lebensgeschichte, die Fischer am liebsten selbst erzählt und historisch deutet. Derart berauscht von den eigenen, bislang ungeahnten Möglichkeiten möchten manche von Fischers Kritikern das Leben des großen Joschka nicht nur vom Kopf auf die Füße stellen. Einmal dabei, wollen sie es auch gleich noch vom Pathos des Historischen befreien.

Sie tun das der Einfachheit halber, indem sie Fischers Werk, halb anerkennend, halb herablassend, einfach für vollendet erklären. Und plötzlich steht ein Gedanke im Raum, den vor Monaten viele noch fürchteten, den sie in den aufgeregten Zeiten von heute aber für verführerisch halten: Die Grünen brauchen Fischer nicht mehr, heißt es. Die rot-grüne Regierung würde an einem Rücktritt des Außenministers nicht zerbrechen.

Hat Joschka Fischer also bald wieder mehr Zeit zum Joggen?

Nein, er wird, wenn ihm in der Auseinandersetzung über seine Vergangenheit kein Fehler mehr unterläuft, noch ein paar Jahre in Washington, Peking und Moskau am Rande von Staatsbesuchen seine Dauerläufe absolvieren müssen. Denn die Argumente, die begründen sollen, warum Fischer heute für die Grünen verzichtbar ist, sind nur die Hälfte der Wahrheit: Die Grünen hätten mit Fritz Kuhn zum ersten Mal einen Chef, der die Parteizentrale als eigenständiges Machtzentrum ausgebaut habe, wird gesagt. Mit Renate Künast hätte die Partei eine Politikerin, die bald populärer sein könnte als Fischer. Der Außenminister mache keine grüne Außenpolitik, das habe man an seiner Unterwerfungsgeste in den USA wieder gesehen. Außerdem seien die Grünen mittlerweile eine normale Partei geworden, die auf das heilsgeschichtliche Pathos Fischers getrost verzichten könnte.

Blöderweise belegt genau die andere Hälfte dieser Wahrheit, dass die Grünen froh sein können, ihren großen Meister heute noch an ihrer Seite zu wissen. Das schwächste Argument für Fischer ist noch dies, dass die Grünen keinen anderen Außenminister haben. Würden die Sozialdemokraten das Ressort übernehmen, verlöre die gesamte Koalition ihre innere Balance. Welches andere zentrale Ministerium sollten die Grünen übernehmen? Vor allem: wer? Könnte sich Trittin dann noch halten? Die rot-grüne Regierung würde stürzen.

Und die Grünen selbst? Fritz Kuhn ist sicherlich dabei, die Partei gegenüber der Regierung und der grünen Bundestagsfraktion als eigenständiges, strömungsunabhängiges Machtzentrum aufzubauen. Aber dieser Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Was die momentane Popularität der neuen Verbraucherschutzministerin Renate Künast betrifft: Sie tut den Grünen gut. Aber sie ist nur ein Hinweis darauf, dass die Mediengesellschaft schnelllebig ist; wer heute nach oben kommt, der kann morgen tief fallen, da reicht unter Umständen schon eine Maul- und Klauenseuche.

Die Grünen brauchen Fischer aber am meisten, weil er kein richtiger Grüner mehr ist. Erst seine Ferne zur eigenen Partei, seine geistige Unabhängigkeit, sein Charisma machen aus Fischer den Popstar, der in der Bevölkerung so beliebt ist. Sein Lebensweg, seine Aura, sein Einfluss jenseits aller Ämter machen ihn zu einer Figur, die Sehnsüchte weckt und erfüllt, die in der Politik normalerweise nicht zu befriedigen sind. Davon profitieren die Grünen, nach der Fischer-Debatte wahrscheinlich noch mehr als vorher. Wo immer Fischer dieser Tage auftritt – die Säle sind voll. Für eine Sechs-Prozent-Partei wie die Grünen bedeutete der Verzicht auf den einzigen Charismatiker in ihren Reihen ein enormes Risiko. Vielleicht hat nur Gregor Gysi seine Partei ebenso einsam geprägt wie Fischer die Grünen – wo die PDS heute ohne ihren Medienstar steht, kann man sehen. Genauer gesagt: Man kann es nicht sehen.

Einer der großen Widersprüche der Grünen lag immer darin, dass eine so antiautoritäre Partei eine so autoritäre Führungsfigur wie Fischer geduldet, mehr noch, dass sie sich nach ihr gesehnt hat. Es wäre eine große Leistung, würden sich die Grünen von Fischer als ihrem großen Zampano emanzipieren. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Partei auf die Kultfigur Joschka Fischer verzichten kann. JENS KÖNIG