In einem anderen Land

„Praline“-Hefte, Eiersalat, Gasmasken und andere Waren des täglichen Bedarfs: Wie es im Winter 1990 bei der NVA zuging, und was sich außer Akten noch so alles in der einstigen Stasi-Zentrale fand

von JOCHEN SCHMIDT

Winter 1990, die Mauer wurde von einer Firma namens „Limes“ versteigert, meine Wohnung in Berlin war verschimmelt, neue Parteien schossen wie Pilze aus dem Boden, und ich saß immer noch in Magdeburg und diente der Deutschen Demokratischen Republik. Es hatte sich einiges getan beim Militär. Seit Weihnachten durften wir Schnurrbart tragen, was mir nicht viel nützte, seit Januar wurden wir nicht mehr „Genossen“ genannt, sondern „Herren“, und seit neuestem gab es immer öfter Eiersalat. Damit gaben sich die meisten von uns zufrieden, jedenfalls, was den Dienstalltag betraf, an die große Politik stellten sie noch eine weitere Forderung, und die hieß: „Ick will mein’ Sold noch in D-Mark haben“.

Dass ihnen dieser Wunsch erfüllt werden würde, war damals noch nicht abzusehen, und davon, dass ihnen ihr Arbeitslosengeld nach ihrer Entlassung aus der Armee, auch gleich in D-Mark gezahlt würde, hätten sie nicht zu träumen gewagt. Unser Sanitäter und unser Fuhrparkmeister hatten es besonders eilig gehabt und waren im Urlaub im Westen geblieben. Die Kioskmutti lief kopfschüttelnd durchs Objekt: „Ick tret aus, sone Schweine, ick bin total enttäuscht, ick tret aus aus de Partei.“

Gerade waren nämlich die ersten Meldungen über Honeckers Häuschen in Wandlitz erschienen. Alle Dienstgrade wurden ein bisschen aufmüpfiger, wir verlangten die Abschaffung des Frühsports, der ungesund für den Körper sei, die Entlassungskandidaten verlangten die Abschaffung der Armee, jedenfalls was sie betraf, sogar die Unteroffiziere inszenierten einen Beflissenheitsstreik, indem sie anfingen, ihre Vorgesetzten bei jeder Gelegenheit zu grüßen. Wurde man gegrüßt, war man als Vorgesetzter gezwungen, ebenfalls zu grüßen. Da einen theoretisch alle Untergebenen bei jeder Begegnung grüßen müssen, was sie normalerweise nicht tun, bekam man als Hauptmann bei einem Gang durch die Kaserne jetzt Muskelkater im rechten Arm. Es bewegte sich also vieles, weshalb es uns eher verwunderte, dass wir die Kisten mit den Schlagstöcken, die zwischenzeitlich eingemottet worden waren, wieder ausmotten sollten.

Es hätte ein gemütlicher Winter werden können, in dem sich alle in Ruhe lassen, das gute Essen genießen, auf dem Zimmer Cola trinken und die Neuanschaffungen von den ersten Westreisen ausprobieren, Praline-Hefte und Jägermeister. Da es kaum noch DDR-Bürger gab, wurden die Entlassungskandidaten aus dem dritten Halbjahr tagsüber in der Produktion bei „Waren des täglichen Bedarfs“ eingesetzt und hatten abends keine Lust, sich, wie es die Tradition forderte, für uns Tagesaufgaben auszudenken. Sie waren jetzt 15 Monate hier und wollten nach Hause. Ihre Uniform hing ihnen in Fetzen vom Leib, sie hatten nicht mehr die Energie, die Knöpfe zuzuknöpfen, sie wollten zurück zu ihren Frauen, die dauernd Kinder kriegten, obwohl gar kein Mann im Haus war.

Es kam landesweit zu Soldatendemonstrationen, die Aktuelle Kamera zeigte Soldaten in Wattejacken im grauen Januarlicht stehen, Kerzen in der einen und „Keine Gewalt“-Poster in der anderen Hand. Der neue Verteidigungsminister sprach zu ihnen und rief sie zu Ruhe und Ordnung auf. Wenig später wurde der Wehrdienst auf 12 Monate verkürzt, der neue Verteidigungsminister war offensichtlich ein guter Mann.

Die Entlassungskandidaten spielten lustlos ihre Entlassungsscherze durch, ein paar Vorhängeschlösser wurden dem Waffenwart an sein Gitter geklemmt, ein paar Flaschen flogen nachts aus dem Fenster und am letzten Montag schmissen im Essensaal alle kollektiv ihre Suppenlöffel in Richtung Essenausgabe, Suppe gab es nur montags, Mittwoch war Entlassung, also gab es für die Löffel keinen Bedarf mehr. Je näher der Tag rückte, desto unruhiger wurden sie, keinen hielt es mehr im Bett, sie schlichen müde und nervös durch die Gegend sahen uns Frischen milde beim Bohnern zu, erzählten dabei von Haus und Hof und vertrieben sich die Zeit mit Eiersalat und Makraméarbeiten.

Dann kam ein mysteriöser Einsatz. Wir wurden auf Lkws verladen und fuhren für zwei Wochen nach Berlin-Blankenburg. Dort gab es eine Kaserne, in der unglaubliche Sitten herrschten. Niemand knöpfte seine Jacke zu, niemand grüßte, niemand glaubte an die Zukunft. Und das, obwohl wir gerade noch alle Christa Wolfs berühmten Aufruf „Für unser Land“ unterschrieben hatten, weil unser Kompaniechef uns sonst den Ausgang gestrichen hätte.

Abends erfuhren wir, was wir hier sollten, denn wir wurden zur ehemaligen Stasi-Zentrale in die Normannenstraße gefahren. Die Zentrale war vor kurzem vom Volk gestürmt worden und wurde jetzt von Bürgerrechtlern bewacht, die dem Frieden nicht trauten. Für professionelle Sicherheit sollten wir sorgen. Unser Hauptquartier waren die Pförtnerräume im Parterre von Mielkes Block. Zwei Stunden war Ruhezeit, danach kamen zwei Stunden Wache. Die Wache bestand darin, dass man über einen Teil des Geländes schlenderte, auf besondere Vorkommnisse achtete und sich langweilte, weil nie etwas passierte.

Was macht man, wenn man in so einem mysteriösen Gebäudekomplex alle halbe Stunde auf die Uhr guckt und wieder nur fünf Minuten vergangen sind? Man sieht sich ein bisschen um. Zuerst nahm ich mir unser Gebäude vor. Auf jeder Etage gab es einen großen Müllhaufen, auf dem die Reste der Verwüstungen zusammengekehrt waren. Man fand alles, vom kaputten Diktiergerät über kaputte Gasmasken, kaputte Schutzanzüge bis hin zu Felix Dserschinskis zerfledderten gesammelten Werken. Viele Räume waren versiegelt, aber in manche konnte man einen Blick werfen: verwüstete Büros, die Schreibtische mit Schmähungen besprüht, leergeräumte Schränke für Fotoausrüstungen, leere Safes, wo war die Waffenkammer? Natürlich hoffte ich, in einem der Haufen meine Akte zu finden, aber ich hatte kein Glück. Ich fand sie nicht, nur einen Löffel, auf den „MFS“ eingestanzt war. Dann wurde ich draußen in der Kälte eingesetzt. Manchmal setzte ich mich in einen kleinen Durchgang mit Heizung und versuchte zu schlafen und mich gleichzeitig nicht erwischen zu lassen, eine sehr militärische Kunst. Dann wieder ging ich zwischen den Hochhäusern spazieren und sagte mir: Wenn du jeden Schritt doppelt so langsam wie normal machst, dann sind, wenn du dreimal im Kreis gegangen bist, zwei Stunden um.

Aber es war trotzdem unerträglich langweilig. Zum Glück räumten die Bürgerrechtler tagsüber die Stasi-Büros aus und stellten den Inhalt abends in Papiermüllsäcken auf den Hof. Anfangs guckte man mal in einen von den kaputt gegangenen rein, dann machte man mal einen auf und knotete ihn hinterher sorgfältig wieder zu, am Ende lag nach einer durchwachten Nacht der Inhalt von zwanzig Müllsäcken auf dem Hof verteilt.

Nach und nach waren wir nämlich alle auf den Geschmack gekommen. Ich fand Abzeichen vom letzten MFS-Jubiläum, das nie stattgefunden hatte, Schulterstücken jeden Dienstgrads, einen nagelneuen Helm, noch mehr Gasmasken, eine Pinnwand. Ich schmuggelte soviel davon ich konnte in meinen Hosentaschen raus und warf es im Lauf der nächsten Jahre wieder weg.

Doch dann kam der Höhepunkt: Es gab ein besonders großes Gebäude, das extra bewacht wurde. Einmal war ich dort eingeteilt und konnte nicht widerstehen. Ich schlich mich die Treppe hoch und fand mehrere Etagen mit riesigen Sälen vor. Auf einer Etage gab es eine komplette Kaufhalle, die leider verschlossen war, auf einer anderen einen Buchladen, ebenfalls verschlossen. Eines der Schaufenster ließ sich allerdings aufschieben, es hatte eine seitliche Klappe, die man mit einem Vierkantschlüssel aufbekam, aber wenn man sich geschickt anstellte auch mit zwei normalen Schlüsseln. Durch diese Klappe stieg ich in den Buchladen ein.

Leider hatten die Bürgerrechtler oder Falko Hennig schon die meisten Bücher geklaut, aber das Gefühl, mir alles, was ich wollte, nehmen zu können, elektrisierte mich. In einer Kammer fand ich eine Kiste voller Minibücher. Treue Genossen erkannte man daran, dass sie sich ihre Schrankwand mit diesem Auswuchs der DDR-Buchkultur verschönerten „Berlin, Hauptstadt der DDR“, 3, 4 cm groß. Ich ließ das Zeug liegen und erzählte später einem Unteroffizier davon. Er ging selbst noch einmal hoch und kam mit einem Rucksack voller Minibücher zurück. Nach meinen Informationen muss seine Beute heute einen Sammlerwert von über 10.000 Mark haben. Schade, dass meine vielen Gasmasken nicht so gefragt sind.