Bittersüß wie die erste Liebe

Nie würde sie sich eine andere Stelle suchen, sagt eine Mitarbeiterin der Schokoladenfabrik Roter Oktober. Das Gehalt ist gering, das Prestige groß

aus Moskau BARBARA KERNECK

Über einer Halbinsel im Moskwa-Fluss, direkt gegenüber dem Kreml, hängt der Geruch von Kakaopulver. Hier steht die größte und traditionsreichste Pralinen- und Schokoladenfabrik Russlands: Krasny Oktjabr – Roter Oktober. In den Hallen wird der Kakaogeruch bisweilen von Mandel- und Zitrusaromen überlagert, zum Roten Platz hin verliert er sich. Für Russen über dreißig ist dies ein Hauch aus ihrer Kindheit. Die seit jeher von ihnen bevorzugte Schokolade hat so bittersüß zu sein wie ihre Erinnerungen an das eigene Schicksal. „Der Rote Oktober ist wie die erste Liebe“, lautet ein Werbespruch des Unternehmens. Aber hat es Werbung überhaupt nötig?

Die Bitte, die Fabrik besichtigen zu dürfen, ruft bei der Marketingabteilung Befremden hervor. Dabei schleust die Firma pro Jahr an die 13.000 Touristen durch die Werkhallen. Ausländische Journalisten jedoch sind verdächtig. Als potenzielle Spione? Schließlich werden wir doch empfangen, von einer Historikerin. Ljudmila Numerowa darf nur das Fabrikmuseum zeigen.

1850 verschlug es den württembergischen Zuckerbäcker Ferdinand Theodor Einem nach Russland. Er änderte seinen Namen und hieß fortan Fjodor Karlowitsch Ejnem. Da die Bedingungen für ausländische Investoren damals günstiger waren als heute, eröffnete er 1851 einen eigenen Konditorladen und wurde bald in die dritte Moskauer Kaufmannsgilde aufgenommen. Später erwarb er eine Dampfmaschine und gründete 1867 die erste Fabrik. Sein Kompagnon, der Ökonom Julius Heuss, führte das Unternehmen nach Einems Tod in den 70er-Jahren unter dessen Namen weiter.

1893 kaufte Heuss für seine Schokoladenfabrik die gegenüber dem Kreml gelegene, sechs Hektar große Halbinsel. Die damals aus Ziegeln errichteten Werksgebäude stehen hier noch heute, im Wesentlichen unverändert, ein Denkmal der Industriearchitektur. Heuss herrschte bald schon über zwei weitere Fabriken und fünf Geschäfte in verschiedenen Teilen Russlands. Auf Messen in aller Welt heimste er Auszeichnungen für seine Pralinen, Lebkuchen und Pastillen ein. Aber auch an nationalen Ehren mangelte es nicht. Ab 1913 belieferte die Firma den Zarenhof. Doch im Ersten Weltkrieg holten die antideutschen Ressentiments das Unternehmen ein. Es wurde geschlossen. Bevor die Bolschewiki die Fabrik nationalisierten, hatte sie anderthalb Jahre stillgestanden. Unter der Bezeichnung staatliche Konditoreifabrik Nr. 1, ehemalige Ejnem, nahm sie den Dienst wieder auf. 1923 erhielt sie den Namen „Roter Oktober“.

Nicht nur damals im Bürgerkrieg, auch später waren größere Bevölkerungsgruppen des Imperiums unter- oder mangelernährt und die Schokoladentafeln des Roten Oktober deshalb so wertvoll wie Goldbarren. Seit eh und je werden die Arbeiterinnen beim Verlassen der Fabrik gefilzt. Vom Ende des 19. Jahrhunderts ist ein Schild erhalten: „Wir bitten die Mädchen, keine Nadeln bei sich zu führen, weil sich an ihnen die Durchsucher leicht verletzen können, was häufig zu ernsten Erkrankungen führt.“

Da es ohnehin unmöglich war, die Gier der werktätigen Massen nach Süßem zu stillen, hätte man sich bei der Produktion weniger Mühe geben können. Doch die Traditionen machten sich bezahlt. Konservierungsmittel und Geschmacksverstärker sind verpönt. Als mitten im Zweiten Weltkrieg die Mandeln für die Füllung der beliebten Mini-Schokobarren „Mischka Tolpatsch“ ausgingen, wollte die Firmenleitung sie durch Nüsse ersetzen. Daraufhin ging der erste Meister der betreffenden Werkhalle zum Direktor und sagte: „Entweder wir warten, bis es wieder Mandeln gibt, oder ich kündige.“ Der Mann riskierte seinen Kopf. Aber er setzte sich durch.

Als „Zarenreich der Aromen“ wird der Rote Oktober in der russischen Presse gern beschrieben. Wenn dieses Bild zutrifft, dann ist Mischka Tolpatsch in diesem Reich der Zar. Das o-beinige Bärchen stapft mit Mutter und Brüdern seit 1902 über die Einwickelpapierchen des gleichnamigen Konfekts. Generationen sind auch mit dem pausbackigen Mädchen Aljonka auf der Bitterschokolade und mit dem Vögelchen auf der Packung mit den beschwippsten Sauerkirschen groß geworden. Häufig dienen Gemälde russischer Maler aus dem 19. Jahrhundert als Vorbild. Schon Julius Heuss ließ – als echter Kulturfreund – einen Schokoladenwalzer und einen Keksgalopp komponieren.

Mitte der 90er-Jahre, als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die eigene Produktion darniederlag, drängten ausländische Waren auf den russischen Markt. Nationalisten sprachen von „Snickerisierung“. Seiner „Vergangenheit beraubt“ fühlte sich der ansonsten kosmopolitische Moskauer Soziologe und Zeitschriftenherausgeber Daniil Dondurei. Denn er konnte nicht mehr an den lieb gewordenen Süßigkeiten seiner Kindheit schnuppern. Besonders vermisste Dondurei Moosbeeren in Puderzucker. Dass der Rote Oktober an der traditionellen Qualität und an den märchenhaften Verpackungen festhielt, machte sich damals bezahlt.

Während der Schnee wie Puderzucker über die Ziegel stäubt, dampft in dem vierstöckigen Schokoladenwerk der Kakaobrei. Im Gefolge einer Schulklasse dürfen wir es nun doch besuchen. Gespräche mit der Belegschaft sind nur unter den Argusaugen der Numerowa gestattet. Selbst in der russischen Provinz geben sich vorbildliche Betriebe der Lebensmittelindustrie heute offener.

Der Produktionsprozess im Schokoladenwerk entwickelt sich von oben nach unten. Im Dachgeschoss wird Kakaobutter aus den Kakaobohnen herausgepresst. Anschließend wird das Pulver mit verschiedenen Zusätzen vermischt – je nachdem, welche von den vierzig verschiedenen Schokoladensorten herauskommen soll. Die Masse wird in Schmelzkesseln verflüssigt und durch Pipelines in die darunter gelegenen beiden Hallen gepumpt. Dort bekommt der amorphe Brei schließlich Formen, wird in Vibrierschränken abgekühlt, mit Füllungen versehen und schließlich verpackt. Die ganze Anlage ist neu, doch der Anteil der Handarbeit bleibt unverkennbar hoch, das Fließbandtempo gemächlich, die Geräuschkulisse gedämpft. Es gelingt uns, mit ein paar Arbeiterinnen diskret Kontakt aufzunehmen. Sie monieren zwar den niedrigen Lohn (das Grundgehalt liegt bei umgerechnet 230 Mark im Monat), preisen aber das Betriebsklima und Sozialleistungen. „Noch nie bin ich auf die Idee gekommen, mir eine andere Stelle zu suchen“, berichtet eine muntere Blondine: „Bei uns arbeiten ganze Dynastien: Frauen aus drei, vier Generationen derselben Familie. Schließlich – das Prestige!“ 3.800 Personen sind in der Hauptfabrik angestellt, dazu kommen fünf Produktionsstätten in der Provinz und ein Zulieferungswerk nahe der Hauptstadt. Die Kette der firmeneigenen Einzelhandelsgeschäfte wächst monatlich. Eines hat kürzlich ganz nah am Wohnhaus von Daniil Dondurei aufgemacht. Dort bleiben die Moosbeeren nie lange auf dem Ladentisch.

Vielleicht gehört die Spionagephobie der Marketingabteilung zum patriotischen Nostalgiespiel des Roten Oktober. Nur dem Konservatismus des Hauses ist es schließlich zu verdanken, wenn sich künftige Generationen Russlands nicht allein durch den Geschmack von „Mars“ und „Snickers“ an ihre Kindheit erinnert fühlen werden, sondern auch durch „Mischka Tolpatsch“ und „Aljonkas“ Bittersüße. Da schrieb doch kürzlich eine russische Zeitschrift namens Schönheit und Welt über das Rote-Oktober-Imperium: „Das alles gehört uns allen miteinander. Etwas Heimeliges, das Millionen vereint.“