Applaus für Bushs Drahtseilakt

Der neue US-Präsident besteht seinen ersten Auftritt vor dem Kongress. Er kündigt umfangreiche Steuersenkungen an. Aber die Bildung und die Krankenversorgung von Rentnern sollen nicht zu kurz kommen. Die Demokraten sprechen von Irrsinn

aus Washington ELLY JUNGHANS

Ein paar Pirouetten, kein Todessturz und 88 Runden Applaus – bei seinem ersten Auftritt vor dem Kongress vollführte der neue US-Präsident George W. Bush einen Drahtseilakt, der die heimischen Fernsehkommentatoren zu stehenden Ovationen verleitete. Vor einem überwiegend wohlwollenden Publikum gab der nur knapp ins Amt gelangte Republikaner am Dienstagabend eine solide Vorstellung ab. Bush wachse in seine Rolle als US-Präsident hinein, musste selbst sein innerparteilicher Rivale John McCain einräumen.

38 Tage nach seinem Amtsantritt präsentierte sich der Texaner der Nation nach bewährtem Muster als Mann der Mitte. Einerseits warb er heftig für die Steuersenkungen, die seiner eigenen Klientel wichtiger sind als jedes andere politische Projekt. Andererseits präsentierte er eine Reihe von Haushaltsposten, die den Demokraten seine Steuerpläne versüßen sollen – mehr Geld für Schulen und für die Krankenversorgung von Rentnern stehen dabei obenauf.

Sein Haushaltsentwurf sei sowohl von Vernunft als auch von Verantwortung geprägt, argumentierte der Republikaner. Er kleidete sein Vorgehen, das demokratische wie republikanische Wünsche befriedigen soll, in das Gewand einer neuen politischen Philosophie. Es gelte, das alte Schema zu überwinden, wonach die einen für mehr staatliche Programme seien, egal was sie kosteten, während die anderen weniger ausgeben wollten, egal wie groß die Not sei: „Wir sollten diese Argumente dem vergangenen Jahrhundert überlassen und einen neuen Kurs einschlagen.“

Der Haushalt für 2002, den der US-Präsident gestern veröffentlichen wollte, soll rund 1,9 Billionen Dollar (4 Billionen Mark) kosten. Er sieht eine Ausgabensteigerung von 4 Prozent vor, die sparsamen Republikanern eine Gänsehaut wachsen lässt. Die über zehn Jahre geplanten Steuersenkungen von 1,6 Billionen Dollar (3,4 Billionen Mark) sollen rückwirkend gelten, um die lahmende Konjunktur anzukurbeln. Zugleich wolle er binnen zehn Jahren 2 Billionen Dollar (knapp 4,3 Billionen Mark) an Staatsschulden abbauen, versprach Bush.

Demokratische Spitzenpolitiker liefen Sturm gegen die Steuerpläne. „Was wir heute Abend gehört haben, klingt einfach zu gut, um wahr zu sein“, sagte der demokratische Fraktionschef im US-Repräsentantenhaus, Richard Gephardt. Bushs Steuerpläne seien zu umfangreich und nutzten vor allem den Reichen. Sie ließen nichts übrig für Investitionen in Bildung oder Sozialprogramme. Die Pläne des Präsidenten seien „reinster Irrsinn“, sagte der demokratische Senator Robert Byrd.

Bush betonte hingegen, trotz geringerer Einnahmen werde genug Geld da sein, um die Renten zu sichern, Reformen anzustoßen, alte Menschen mit Arzneimitteln zu versorgen, die Umwelt zu schützen und die Soldaten besser zu bezahlen als bisher. Für das geplante Raketenabwehrsystem (NMD) veranschlagte er zunächst nur eine „Anzahlung“. Ein Spargroschen von 1 Billion Dollar soll den US-Bürgern die Angst vor Defiziten wie zu Zeiten von Ronald Reagan nehmen.

Wie geschickt der Drahtseilakt des neuen Präsidenten ist, wird sich daran zeigen, ob er seine Steuersenkungen durchsetzen kann. Das Publikum, das er überzeugen muss, sitzt nicht nur in den Hallen des Kapitols. Laut einer Umfrage des unabhängigen Pew-Instituts sind 63 Prozent der US-Bürger der Meinung, dass der Haushaltsüberschuss am besten in staatlichen Programmen angelegt wäre, während nur 16 Prozent auf einer Steuererleichterung bestehen.

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