Tschernobyls im Nordmeer

Den maroden Zustand der russischen Atomflotte hat jetzt auch „Bild“ bemerkt. Dabeiist er selbst in Russland längst bekannt. Nur zu viel darüber reden sollte man dort nicht

BERLIN taz ■ Einen angeblich „geheimen internen Lagebericht“ des Bundesumweltministeriums, in dem dessen Experten vor der Verschmutzung der Meere durch verrottende russische Atomunterseeboote gewarnt haben sollen, zitierte gestern die Bild-Zeitung. Laut der Meldung bahnt sich vor allem im Nordosten der Russischen Föderation eine gewaltige Katastrophe an, wenn sich die dort geparkten über 100 Wracks atomarer U-Boote zersetzen. Nach Auskunft des Pressesprechers des Bundesumweltministeriums, Michael Schroeren, handelt es sich allerdings weder um einen geheimen noch einen internen Bericht, sondern um eine Antwort des Ministeriums auf eine Anfrage von FDP-Abgeordneten. Als Bundestagsdrucksache ist sie aller Welt zugänglich.

In Russland selbst sind der Zustand der abgewrackten Atomunterseeboote und die Gefahr, die sie bilden, ohnehin schon seit Jahren ein offenes Geheimnis. So antwortete bereits 1997 der damalige Generalstaatsanwalt Juri Skuratow auf den Vorwurf, dass er die Korruption in den oberen Rängen der Admiralität ungenügend verfolge: „Ein einziges altes Atomunterseeboot, dessen aktive Reaktorzone nicht demontiert wurde, ist für uns gefährlicher als hundert Korrupte.“

Unter der Überschrift: „Mehr als hundert veraltete Atomunterseeboote können sich in entsprechend viele Tschernobyls verwandeln“, brachte die Wochenzeitung Argumenty i Fakty damals ein Interview mit dem Konteradmiral Professor Georgi Kostjew, dem korrespondierenden Mitglied der Akademie der Militärwissenschaften. Der bestätigte, das Katastrophen sowohl im russischen hohen Norden um die Hafenstadt Murmansk als auch im Fernen Osten zu erwarten seien. Nach seinen Aussagen sind nur aus 49 von 156 ausrangierten russischen Atomunterseebooten die Reaktorzonen ausgebaut worden. „Das ist eine Bedrohung für die Menschheit“, sagte der Admiral-Professor. Kostjew fügte hinzu, dass die Verschrottung weiterer 160 atomar betriebener Schiffe bevorstehe. Mit etwa 70 aktiven Atomunterseebooten war die Murmansker Flotte zum Zeitpunkt des Interviews 1997 die drittgrößte ihrer Art in der Welt.

Der beklagenswerte Zustand der U-Boot-Wracks wird in der russischen Presse allgemein damit begründet, dass dem Verteidigungsministerium die Gelder zu ihrer Demontage fehlten. Die Furcht davor, das Thema öffentlich anzusprechen, ist unter den Küstenbewohnern sehr groß. Der ehemalige Kapitän der Nordmeerflotte, Alexander Nikitin, wurde vom russischen Geheimdienst FSB angeklagt und bis zu seinem Freispruch im letzten Jahr jahrelang in Untersuchungshaft gehalten, weil er der norwegischen Umweltschutzorganisation Bellona Daten über die atomare Bedrohung durch alte Unterseeboote und unsachgemäße Brennstoffentsorgung zugänglich gemacht hatte. Bellona-Fachleute schätzen, dass unter den ausrangierten Reaktoren eine Kettenreaktion entstehen könnte, falls einer von ihnen explodiert. In der Folge würde die gesamte Halbinsel Kola an der Grenze zu Finnland und Norwegen unbewohnbar.

BARBARA KERNECK