Nächste Abfahrt: Bottrop

Auf einer Abraumhalde können die Flachlandtiroler des Ruhrgebiets seit neuestem Skifahren und Snowboarden erlernen – ganzjährig bei minus fünf Grad

von GÜNTER ERMLICH

Seit ein paar Wochen ist Bottrop als medialer Dauerbrenner in den Schlagzeilen: „Snow goes Bottrop“. Am 7. Januar öffnete das „Alpincenter“. Die krisengeschüttelte Kohlestadt im nördlichen Ruhrgebiet hat sich zum schneesicheren Skiort strukturgewandelt. Das war selbst der Los Angeles Times einen Bericht wert. Warum in die Alpen schweifen, wenn der Schnee so nah liegt?

BOT, E, EN, DU, BO; DO, GE, LEV, RS, KLE, WES, HA – die Autokennzeichen auf dem Parkplatz zeigen es: Die Ruhrpöttler und ihre Nachbarn fahren jetzt in die Winterfrische vor ihrer eigenen Haustür. Zwei brünette Skihäsinnen schlurfen in klobigen Skischuhen, Bretter geschultert, über den matschigen Parkplatz. Ein Twen mit Baseballkappe und Trainingsanzug zerrt an seinem Snowboard im Kofferraum. Aus dem weißen Zelt an der „Talstation“ dringt phonstarkes Gewummer und Gegröle. „Zicke zacke, zicke zacke, heu heu heu.“

Hereingeschneit in die schöne, neue Alpinwelt! Die Abraumhalde ruft! Schmale Förderbänder, eine Reminiszenz an den Kohletransport in den Bergwerken, bewegen die Alpinisten durch einen kahlen Tunnel die sechshundert Meter von der Tal- zur Bergstation. Oben im Eingangsbereich dröhnen Legionen von Lautsprechern mit Discomusik; Monitore offerieren Livebilder aus der Skihalle oder vom Schanzenspringen bei Eurosport.

Die Piste ist dreißig Meter breit, aber immerhin 640 Meter lang und damit die „längste überdachte Schneepiste der Welt“. Fünftausend Kubikmeter Schnee bedecken bis zu vierzig Zentimeter hoch die 16.800 Quadratmeter Fläche. 77 Meter beträgt die Höhendifferenz, zwei bis 24 Prozent das Gefälle.

365 Tage im Jahr ist die Halle schneesicher. Maschinen produzieren eine Art Crushed Ice, das auch zur Kühlung auf Fischmärkten eingesetzt wird. Kein Vergleich mit g’führigem Pulverschnee, aber auch kein beinhartes Eis. Das künstliche Weiß ist recht griffig, für Anfänger geeignet. Winters wie sommers beträgt die Temperatur minus fünf Grad. Sechs Millionen Kilowatt verpulvert Deutschlands größter Kühlschrank im Jahr.

Die künstliche Winterwelt hat hundert Millionen Mark verschlungen. Keine Steuergelder, nur Kohle von Privatinvestoren. Marc Girardelli, fünfmaliger Sieger des Ski-Gesamtweltcups, ist einer der Bauherren und prominenter Promoter. Er sieht das „Alpincenter“ als „Einstiegsdroge für Vier- bis Hundertjährige und für Leute, die gerne mit dem Skisport anfangen möchten oder ihn früher praktiziert haben, aber aus zeitlichen oder finanziellen Gründen nicht mehr dazu in der Lage sind.“

In den ersten fünf Wochen kamen über hunderttausend Besucher. Vor allem an den Wochenenden war die Hütte so voll, dass der Skiverleih zeitweise keine Skier und der Schuhverleih keine Schuhe mehr ausgeben konnte.

Frau Gintzel ist an diesem Karnevalsfreitag mit ihrem Mann und ihren zwei kleinen Söhnen aus Bonn angereist. Für sie als „mittelmäßige Skiläuferin“ sei die Abfahrt mit drei Kurven leicht zu bewältigen, für gute Skiläufer sei sie aber wohl zu leicht. Außerdem fehlten die Buckel wie in der Natur. Aber für ihren Mann und ihre Kinder, alle drei absolute Anfänger, sind das gute Bedingungen. Heute morgen haben die Kids eine Skistunde gehabt. Jetzt am Nachmittag üben sie mit Sturzhelm auf dem oberen flachen Teilstück. Familie Gintzel will in Zukunft regelmäßig kommen und üben – „damit es nicht verkümmert bis zum nächsten Skiurlaub“.

Ein Pistenabschnitt ist heute Nachmittag für einen Fun-Wettbewerb reserviert. Damen und Herren mit Startnummern umkurven im Zeitlupentempo auf dem Skifox, einem Zwitter aus Ski und Schlitten, blaue und rote Plastikkegel. Mitarbeiter einer dot.com-Firma auf einem Betriebsevent. Ein paar Meter entfernt boarden Henrik (15) und Simon (14) schon ganz ordentlich Snow. Die beiden Brüder aus dem münsterländischen Raesfeld sind zum zweiten Mal hier, in den „richtigen Alpen“ waren sie noch nie. „Wenn es gefährlich wird, werfen wir uns halt hin“, sagt Henrik. Ganz ohne Verletzungen geht auch hier der Spaß nicht ab. Rund zwanzig Unfälle gab es in den ersten vier Wochen, meist Verstauchungen, aber auch ein doppelter Kreuzbandriss.

Wie ein giftgrüner Lindwurm schlängelt sich die Hallenkonstruktion mit drei Kurven den Hang einer Abraumhalde hinunter. Der so genannte Monte Schlacko liegt eingebettet zwischen einer Nachbarhalde, auf der die künstlerische Stahlrohrpyramide des Tetraeders thront („Haldenerlebnis Emscherblick“), und den rauchenden Schloten der Kokerei Prosper-Haniel, einer der letzten im Ruhrpott. Von der „Bergstation“ des Alpincenters kreist der Blick über Schlote und Gasometer, aufgelassene Industrieareale und Bahnanlagen, Kühltürme und ehemalige Zechenkolonien. Doch „ein städtebaulicher Autist“, wie die Süddeutsche Zeitung mäkelte, ist die Indoor-Skihalle im Flickwerk der Industrielandschaft mitnichten. Was ist in diesem Umfeld ästhetisch-architektonisch noch zu verschlimmbessern?

Kein Ski ohne Après-Ski. Auch in Bottrop nicht. Zur alpinen Erlebnispiste gesellt sich die alpine Erlebnisgastronomie: Ein Almdorf mit der Kneipe „Hasenstall“ und den Restaurantbereichen „Tenne“, „Kaminstub’n“ und „Pfandler Alm.“ Alles rustikal: Tische, Stühle und Fußboden sind aus Holz. Ein ausgestopfter Bär steht herum, von einer Leine baumeln altmodische Frauen(unter)kleider. An den Wänden hängen Strohpuppen, Hobel und Sägen, Milchkannen, Topfdeckel und Tücher mit Küchenweisheiten wie „Ehrt die Frau, die kocht und näht, und fröhlich schafft von früh bis spät.“ Eben das ganze alpentümelnde Flohmarktarsenal. Die Speisekarte („Griaß di“) ist deftig-alpin: Knödlsuppe und Brettljaus’n, Gemüsereindl und Schlutzkrapfen. Der „Almduden“ auf der Rückseite bietet Übersetzungshilfen.

Wenn um Mitternacht die Halle für das Publikum dichtmacht und Schneeraupen die Piste für den nächsten Tag präparieren, ist die Gaudi noch nicht zu Ende. Bis tief in den Morgen läuft der Zapfhahn in der Skitränke. Kein Wunder, dass sich die Einnahmen aus den Wirtschaftszweigen Skisport und Gastronomie die Waage halten. Auf Dauer, so das Kalkül der Betreiber, rechnet sich der Pistenspaß nicht allein. 23 Mark pro Stunde kostet das Ticket. Abgerechnet wird die Nettoaufenthaltszeit in der Schneehalle durch unbestechliche „Zeiterfassungsterminals“.

Noch ist die Umgebung des Ski-Erlebnisparks eine Baustelle mit Baggern und Planierraupen. Doch in Kürze werden die Parkplätze asphaltiert und bis zum Sommer auch die Sonnenterrassen fertig sein. In einem zweiten Bauabschnitt soll an der Talstation ein Hotel mit dreihundert Betten entstehen. Auch an Ideen für Außenaktivitäten mangelt es nicht: ein Mountainbike-Parcours, eine Rodelbahn, eine Kletterwand.

Das „Alpincenter“ ist nicht das einzige seiner Art hierzulande. Einen Tag vor der Bottroper Skiarena eröffnete die „Winterworld“ auf einer ehemaligen Müllhalde in Neuss. Und in Castrop-Rauxel plant ein britischer Investor noch einen Skitempel. Ohne Zweifel, der Ballungsraum Ruhrgebiet ist ein interessantes Pflaster für Investoren der Freizeitbranche. Ein Potenzial von 25 Millionen Menschen im Umkreis von 250 Kilometern (inklusive Holland) gilt es mit trendigen Angeboten zu beglücken. Der Pott kocht schon heute: vor Shoppingmalls, Erlebnisparks, Musicaldomen. Doch wie einst die Musicalhallen aus dem Boden sprossen („Broadway an der Ruhr“) und bis auf Bochums „Starlight Express“ wieder eingingen, so könnten auch die geballten Skihallen nach dem großen Neugierschub an Besuchermangel leiden und sich gegenseitig verdrängen. Die Moden der Freizeitgesellschaft ändern sich manchmal schneller, als die Investoren planen und bauen können. Zumal ein Handicap nicht zu vernachlässigen ist: Wer hat bei dreißig Grad plus im Sommer Lust, die Pudelmütze aufzusetzen und die Skier unterzuschnallen, um bei fünf Grad minus in der Kunstlichthalle dem Winter zuzuwedeln?

Alpincenter: Prosperstraße, 46238 Bottrop. Anfahrt über die A2 oder A 42, Ausfahrt Bottrop-Boy, danach der Beschilderung folgen. Das Alpincenter hat täglich von 9 bis 24 Uhr geöffnet. Fon (0 20 41) 70 9 55 00; www.alpincenter.com; E-Mail: office@alpincenter.com