Die Angst springt mit

Aus 35 Meter Höhe springen sie, an scharfen Felskanten vorbei, in eine winzige Meeresbucht. Seit siebzig Jahren faszinieren die Felsenspringer im mexikanischen Acapulco ihr Publikum. Die Bewunderung und die Anspannung der Zuschauer sind den clavadistas bei jedem Sprung gewiss

von ANNE HUFFSCHMID

Das Wasser plätschert leise gegen die Felswand, das Hin und Her ist im Nachtdunkel kaum zu unterscheiden. Hoch, sehr hoch über dem Gekräusel steht ein Junge. Dehnt sich, trippelt und rudert mit den Armen. Steht dann still und wartet, kerzengrade, mit gesenktem Kopf. Fixiert das schwarze Wasser unter sich, wartet weiter. Leichte Unruhe kommt auf. „Mejor regrésate!“ – „Kehr besser um!“, ruft eine ungeduldige Zuschauerin. Die Umstehenden zischen sie unwillig an. Die steile Wand ist beleuchtet, der schmale Körper des Jungen glänzt im Licht der Laternen. Jetzt zieht er die Arme nach vorne, geht leicht die Knie. Stille. Dann hebt er ab.

Es ist gar kein Springen, es ist ein Sich-fallen-Lassen. Mit ihren weit ausgebreiteten, nach hinten gereckten Armen gleichen die Körper im Flug einer menschlichen Möwe. Erst ganz zum Schluss wird der Fall zum Kopfsprung, wie ein gerader Pfeil schlägt der Körper fast senkrecht im Wasser ein, kreisrund spritzt Gischt auf. Sekunden später lugt der lachende Kopf aus dem Wasser. Erleichtertes Klatschen.

Fischersleute, so will es die Legende, begründeten in den Zwanzigerjahren das Klippenspringen im alten Acapulco. Zunächst als Zeitvertreib: Um die Angelhaken in der engen Bucht vom Meeresboden zu klauben, musste immer wieder einer ins Wasser hüpfen. Daraus wurden kleine Wettbewerbe, bei denen man sich gegenseitig in die Höhe trieb, bis sich 1930 ein besonders beherzter junger Mann als Erster vom obersten Felsvorsprung stürzte. Allerdings, so steht auf den roten Gedenktafeln nachzulesen, habe dieser Pionier sich dabei den Arm verletzt und sei nie wieder gesprungen. Andere dafür um so öfter: ein gewisser Raúl García Bravo soll genau 37.348-mal von den Klippen gehüpft sein. Mit der Zeit wurde der Sport zum Spektakel und die Show zum Geschäft.

Gutes Gespür dafür hatte der Schweizer Musiker Teddy Stauffer, der 1949 seinen Nachtclub „La Perla“ just in die Spalte zwischen den zerklüfteten Felswänden, La Quebrada, baute und mit der Bar vor allem die Hollywood-Prominenz anlockte. Noch heute können betuchte Gäste von den Logenplätzen des Restaurants aus den wohligen Schauer beim Anblick der Klippenspringer, der clavadistas, genießen. Wer dichter ran- und weniger bezahlen will, steigt zur halbrunden Aussichtsplattform gegenüber der Felswand hinab.

Eine perfekte Dramaturgie: Zum Auftakt schreitet ein Grüppchen knapp bekleideter Fackelträger die steinerne Wendeltreppe zur Plattform hinunter. Einer nach dem anderen hüpft ins Wasser und krabbelt auf der anderen Seite, zu Füßen der Steilwand, wieder hinaus. Wie Salamander klettern die jungen Männer den fast senkrecht in die Höhe ragenden Felsen empor. Die Zuschauer, die dicht gedrängt über der Brüstung lehnen, starren ihnen ehrfurchtsvoll hinterher und applaudieren, wenn der Erste oben angekommen ist. Ein paar Momente lang kniet jeder Einzelne vor einem mit grasgrünen und pinkfarbenen Glühbirnen beleuchteten Schrein. Dann begeben sich alle in Position, die Kleinen weiter unten, andere – die Salto- und die Duettspringer – auf halber Höhe, nur einer bleibt ganz oben.

Wieder hält alles den Atem an. Ganz zum Schluss gehen alle Lichter aus, auch der neonbeleuchtete Altar wird ausgeknipst, dafür glimmt jetzt eine kleine Feuersbrunst im Dunkeln. Am Klippenrand erscheint der Springer, breitet die Arme aus, in jeder Hand hält er eine lodernde Fackel. Beim Sprung brennen zwei feurige Linien in der Luft, erst kurz vor dem Eintauchen wirft er sie weg. Es zischt, für einen kurzen Moment wird es ganz dunkel.

Gut verborgen vor den Augen des Publikums führt ein anderer, unspektakulärerer Weg diskret von hinten auf die Klippenspitze. Auch ohne Höhenangst wäre der Blick hinab Schwindel erregend. 35 Meter soll es hier runtergehen, es könnten genauso gut tausend sein. Und die schroffe Wand fällt nicht senkrecht, sondern schräg ab. Wer sich nicht kräftig abstößt, muss zerschellen. Gerade mal fünf Meter breit ist die Wasserschlucht da unten, und knapp vier Meter tief. Und das auch nur, wenn die Wellen gerade in die Bucht hineinrollen. Diesen Moment muss jeder, der hier oben steht, abzuwarten lernen. Das scheint fast unmöglich. Ohne die Virgen de Guadalupe, die Schutzheilige Mexikos und somit auch der clavadistas, aber ginge es gar nicht.

„Ich vertraue nur mir und unserer Jungfrau“, sagt Héctor, ein kräftiger Sechzehnjähriger. So steht sie hier oben, von buntem Licht gerahmt, in einem türkis getünchten Rundbogen. Unter der Keramikfigur sieht man ein paar verrostete Pesomünzen, vor ihr liegt ein schmutziges Handtuch, ganz durchgescheuert von den vielen nassen Knien. Und die Dame versteht offenbar ihr Handwerk: Zwar holen sich die Jungs immer wieder mal geplatzte Trommelfelle, ausgerenkte Schultern und Knochenbrüche. Erst vor zwei Wochen, berichten sie, habe sich ein compañero mit den eigenen Fäusten die Stirn aufgeschlagen. Tote aber hatten sie bislang nicht zu beklagen.

Wann er zum ersten Mal von hier ganz oben gesprungen ist? Héctor überlegt kurz. So vor eineinhalb Jahren vielleicht. Doch, aufgeregt sei er gewesen, sagt er. Mehr, findet der wortkarge Junge, gebe es dazu eigentlich nicht zu sagen. Höchstens noch so viel: Der Vater hatte jahrzehntelang gegenüber Coca-Cola verkauft, ein Onkel hat ihn in die Springerwelt eingeführt. Irgendein Vorbild, einen besonderen Starspringer? „Sind wir alle“, sagt Héctor lakonisch und verabschiedet sich höflich. Das angebotene Trinkgeld lehnt er ab.

Natürlich ist die Felsenspringerei längst ein routiniertes Business. Nach jeder Show machen zwei barfüßige junge Männer in ihrem T-Shirt von der „Professionellen Springervereinigung“ im Restaurant einen Rundgang von Tisch zu Tisch. Den Zuschauern stellen sie sich auf der Steintreppe freundlich in den Weg („Did you like the show?“) und sammeln Dollarscheine. Fünfzig Mitglieder zählt der Klub, über dreißig davon sind aktiv und bringen es, je nach Körper- und Gemütsverfassung, auf drei bis fünf Sprünge am Tag. Dass keine Frauen dabei sind, erklärt Héctor damit, dass es für sie „aus anatomischen Gründen“ eben riskanter sei. Etwas verlegen greift sich der Junge an den Brustkorb.

Um Training und Verwaltung kümmern sich die Veteranen. Keinerlei Finanziers stehen hinter der Springerkooperative, alle Einnahmen gehen in die gemeinsame Kasse, alle Entscheidungen – die Teilnahme an Festivals, Werbespots oder Meisterschaften – werden in ihrer Vollversammlung getroffen. „Wir springen überall runter“, sagen sie stolz – ob von der Golden Gate Bridge oder von olympischen Sprungbrettern. Allerdings sei der Sprung in ein gekacheltes Schwimmbad aus zehn Meter Höhe, so der 35-jährige Ismael, „für uns so aufregend, wie ein Glas Wasser zu trinken“. Dabei wirkt das Lächeln des kleinen Mannes kein bisschen überheblich. Was man denn brauche, um clavadista zu werden? Nun, schwimmen sollte man können, grinst er. „Und ein bisschen irre sein.“

Die Neugier hat ihn vor zwanzig Jahren zu den Klippen getrieben. „Als ich zum ersten Mal hierherkam, wollte ich wissen, wie sich das anfühlt in der Luft.“ Und, wie fühlt es sich an? Ismael zuckt mit den Schultern. „Wie totale Freiheit.“ Auch er ist Springer, kein Geschichtenerzähler. Und alle sind sie Söhne oder Neffen von Klippenspringern. „Die Lust auf Adrenalin“, glaubt der 31-jährige Javier, „liegt in den Genen.“ Über drei Jahrzehnte lang ist sein Vater hier heruntergesprungen, seit sechs Jahren lebt Javier selbst davon. Kurz darauf steht er wieder hoch oben am Klippenrand, winkt und schüttelt sich das Wasser aus den Haaren. Er bekreuzigt sich. Wie hatte er gesagt? „Die Angst geht nie weg.“ Dass man dennoch springt, sei „Ehrensache“, damals wie heute.

Neben ihm stand eben noch ein kleiner Junge bibbernd im Abendwind. Zwölf Jahre alt ist José Carlos, eine feingliedrige Gestalt mit riesigen Augen, so gar kein Draufgänger. Seit gerade einer Woche ist er in der Show dabei. Es sei gar nicht so schwierig, sagt er bedächtig und verschränkt seine Hände hinter dem Rücken. Man müsse nur gut trainieren, gut essen und lernen, die Panik zu kontrollieren. Dann, lächelt er scheu, sei es einfach nur „toll, wie ein Vogel zu fliegen“. Wenig später klebt sein zarter Körper wieder auf einem kleinen Vorsprung an der Felswand. Kerzengerade, voller Ernst. Er wartet, das bleiche Gesicht dem Wasser zugewandt, auf sein Zeichen.

Ein wenig scheint es wie die Liebe zu sein: die Vorfreude, ein langes, immer wieder verzögertes Vorspiel, das Wissen um den Rausch, die Steigerung, die Erwartung, immer höher hinaus, die Ekstase. Der clavado als perfekte Mischung aus Risiko und Routine, der keinen Deut weniger gefährlich ist, als er aussieht. Ein Ritual, das unberechenbar bleibt. Wie das Meer, in das sie springen, jeden Tag im Jahr.

Ein paar Meter hinter den Zuschauerreihen steht ein Mann in weißem Hemd und lacht ab und an in sich hinein. Immer wieder schaut er auf den dunklen Wasserteppich hinunter und gestikuliert dann zu den wartenden clavadistas hinauf. So etwas wie „ja, komm!“ oder „nein, warte noch!“ scheinen seine Handzeichen zu sagen. Nein, er sei nicht von ihnen angestellt. Dennoch kommt er jeden Abend hierher, ein Durchreisender, der hängen geblieben und süchtig geworden ist. „Ich wache über sie“, sagt er einfach. Den Absprung selbst, den freien Fall, den erträgt er nicht. Wenn sie in die Tiefe stürzen, wendet er sich ab.

Plattform von La Quebrada: Eintritt 12 Pesos (ca. 2,60 Mark); gesprungen wird täglich um 13 Uhr, um 19.30, 20.30, 21.30 und – inklusive Fackelsprung – um 22.30 Uhr.ANNE HUFFSCHMID, 35, ist taz-Korrespondentin in Mexiko