California Dreamin’

Disney eröffnet einen neuen Themenpark „California Adventure“ an der Westküste. Klischees und Postkarten eines gerühmten Bundesstaates werden Wirklichkeit

von TILL BARTELS

Auch in Südkalifornien können die Nächte im Februar bitterkalt sein. Seit zwölf Stunden steht Edwina Sims in der Schlange und wartet auf den großen Event. Zusammen mit ihrer Tochter möchte die 61-Jährige aus Pasadena als eine der Ersten den neuen Themenpark betreten. Die 43 Dollar teure Eintrittskarte für Disney’s California Adventure hat sie bereits in der Tasche. Mit ihr hoffen 600 weitere Disney-Enthusiasten, dass die Nacht bis zum Einlass schnell vorübergeht. Wollhandschuhe und ein dicker Mantel schützen Edwina vor der kühlen Brise. Warum verbringt sie eine ganze Nacht im Stehen? „I want to be part of history“, lautet ihre Motivation für die Strapaze. Auch 1955 bei der Eröffnung von Disneyland war sie dabei.

Schon seit Jahren wird der Termin des „Gand Opening“ herbeigesehnt, von den Disney-Machern und der Stadtverwaltung von Orange County, dem südlich von Los Angeles gelegenen Verwaltungsbezirk. Denn es handelt sich um keine schlichte Erweiterung eines Freizeitparks, sondern um ein gigantisches Projekt. Noch nie wurde so viel Geld in ein Tourismusprojekt investiert, in einer beispiellosen Allianz von Kommune, Bundesbehörden und Privatwirtschaft: 4,2 Milliarden Dollar. Und das nur, um ausgiebig Achterbahn zu fahren, einer lebendigen Mickey Mouse die Hand zu schütteln?

Die Stadt Anaheim und Disney’s California Adventure verfolgen ein hoch gestecktes Ziel. Das Dilemma des Entertainment-Konzerns lässt sich schnell auf den Punkt bringen. Mickey hat längst die Grenze zum Rentenalter überschritten. Das alte Disneyland ist in die Jahre gekommen. Als Ausflugsziel hat sich der Park mit heute 14 Millionen Gästen im Jahr zwar fest etabliert, aber wie soll die langfristige Perspektive aussehen?

Wer die Umgebung von Disneyland von früher her kennt, weiß, welcher Wildwuchs in Anaheim herrschte: gesichtsloses Suburbia, chronisch verstopfte Freeways und öde Straßenzüge mit steter Wiederkehr der immer gleichen Namensschilder bekannter Motel- und Hamburger-Ketten. Die Lösung des Problems: Anaheim, das höchstens als ein Reiseziel für ein zweitägiges Stopover gilt, möchte sich zu einer vollwertigen Destination mausern, wo sich Touristen für eine Woche einmieten, konsumieren und gerne ihr Geld lassen.

Zur Verwirklichung dieser Idee reichen nicht einfach ein zweiter Freizeitpark und ein Facelift des Stadtbildes. In einem Kraftakt wurde die Infrastruktur erheblich verbessert, der Santa Ana Freeway von sechs auf zwölf Fahrspuren verbreitert und das Anaheim Convention Center erweitert. Eine neue Fußgängerzone, das Downtown Disney, entstand, und das Grand Californian, ein Luxushotel, das stark an das ehrwürdige Ahwahnee Hotel im Yosemite Valley erinnert.

Nun hat Disneyland auch eine eigene Autobahnabfahrt, sie führt direkt in ein neues Parkhaus, das 10.000 Fahrzeuge aufnehmen kann. Das Fassungsvermögen gilt als nordamerikanischer Rekord. Mit einem Masterplan, der Disney und Kommune aus der Sackgasse herausführen soll, wurde in den frühen neunziger Jahren die Wende eingeleitet. Manche billige Absteige wurde der Abrissbirne geopfert und der gesamte Verkehrsfluss neu geregelt. Jetzt stehen Palmen am Straßenrand Spalier. Insgesamt wurden 15.000 Bäume und Büsche gepflanzt. Da die Eingänge von Disneyland und Disney’s California Adventure gegenüberliegen sollten, erhielt auch der alte, riesige Parkplatz eine neue Funktion. Auf seinem Grund und Boden entstand innerhalb von drei Jahren der neue Park, der Mikrokosmos eines ganzen Bundesstaates.

Die zehn fast vier Meter hohen Buchstaben vor dem Eingang, durch die auch Edwina Sims mit ihrer Tochter am nächsten Morgen hindurchschreitet, ergeben den Schriftzug CALIFORNIA. Ein Themenpark, der kein Fantasia, keine imaginäre Welt abbildet, sondern eine reale Region mit den neuesten Mitteln der Unterhaltungsindustrie inszeniert: das Traumland im goldenen Westen, die Heimat von 33 Millionen Menschen und ein in der ganzen Welt äußerst beliebtes Reiseziel. Disney’s California Adventure erscheint als Kreuzung aus einem atomisierten Bundesstaat und einer stark vergrößerten Modelleisenbahnlandschaft, in der die heile Welt noch existiert.

Unter dem verkleinerten Nachbau der Golden Gate Bridge, dem symbolischen Tor, geht es in den im Vergleich zum alten Disneyland nur zwei Drittel so großen Park. Das Gelände wirkt überschaubar, alle Attraktionen sind bequem zu Fuß zu erreichen. Gleich rechts wurde ein alter Flugzeughangar errichtet, der mit seiner Attraktion „Soarin’ Over California“ als Anziehungspunkt Nummer eins gilt. In dem Kinosaal heißt es Platz nehmen und „fasten seat belts“. Die Zuschauer heben im Dunkeln ab, werden in die Sessel gepresst und finden sich plötzlich über den Wolken wieder: Die eigenen Beine baumeln in Schwindel erregender Höhe über der San Francisco Bay. Sekunden später geht es im Tiefflug über einen Fluss, zu den verschneiten Berggipfeln am Lake Tahoe und den Orangenbäumen im Central Valley. Die Schuhspitzen berühren fast die Baumwipfel, das Publikum zieht die Beine ein. Die Luft duftet nach Orangenblüten, und über der Pazifikbrandung bläst einem der heftige Salzwind direkt ins Gesicht. Bewegte Bilder über und unter einem, links und rechts. In diesem Flug aus der Perspektive eines Drachenfliegers zeigt sich der Bundesstaat von seiner landschaftlich spektakulären Seite auf einer 180-Grad-Leinwand.

Imagineer Ron Rothschild hat das sinnliche Sehen, das Schweben, Schmecken, Hören und Riechen möglich gemacht. Statt mit herkömmlichen 24 wird der 70-mm Film mit 48 Bildern pro Sekunde projiziert. A Tribute to California Der Hangar ist bereits Teil des „Golden State“, eines von drei großen Bereichen, die den Park thematisch gliedern. Die Übergänge von Wahrheit und Fiktion sind fließend, Déjà-vu an allen Ecken: eine viktorianische Häuserzeile aus San Francisco, die Cannery Row aus Monterey, eine Tortilla Factory. Von der rekonstruierten Fabrik blättert bereits am ersten Tag der Putz ab, geplanter Verfall mit artifizieller Patina. Mehr Action und Hightech gibt’s beim Grizzly River Run, einer Wildwasserfahrt, bei der trotz der obligatorischen Regenponchos kein Schlauchbootinsasse trocken bleibt. Und der Park bricht mit einem Tabu: Die von Robert Mondavi gesponserte Golden Vine Winery bietet Weine zum Kauf und zur Verkostung an: Ein Novum, denn im Mutterpark Disneyland darf kein Alkohol ausgeschenkt werden. Außerdem präsentiert sich das Weingut „educationel“, eine Rarität im sonst nur vom Vergnügungen geprägten Park.

Doch was wäre die Faszination des Golden State ohne die Einwanderer und Pioniere, deren Träume und Alpträume. Ihre nicht immer einfache Geschichte wird mit dem Film „Golden Dreams“ durch Whoopi Goldberg erzählt: Per Zeitraffer vergehen die 500 Jahre in 20 Minuten. Das aufwendige Dokudrama ist eine Hommage an die multikulturelle Vielfalt und ein Ergebnis kühler Berechnung. „Ich würde gerne das Spektrum unserer Besucher erweitern und mehr ethnische Gruppen im Park sehen“, so Barry Braverman, der Kopf des kreativen Teams von Walt Disney Imagineering. „Wir haben zum Beispiel keinen großen Anteil von Afroamerikanern hier. Aber wenn California Adventure mehr Latinos, Afroamerikaner oder Asiaten anzieht, wäre das großartig.“

Hinter dem Kunstgebirge öffnet sich der Park zu seinem zweiten Komplex, dem Paradise Pier: eine Amüsiermeile mit der wiederauferstandenen Strandkultur der Board Walks von Santa Monica und Santa Cruz, dem Budenzauber und der Achterbahn California Screamin’.

Special Effects werden im dritten Kapitel von Disney’s California Adventure lebendig, dem Hollywood Picture Backlot. Ein imitierter, blitzsauberer Hollywood Boulevard – ohne leere Bierdosen und nach Kleingeld fragende Obdachlose wie in der Realität – führt in die dreidimensionale Filmwelt, zum Hyperion Theater und der Superstar Limo. In den Art-déco-Gebäuden zu beiden Seiten sind interaktive Animationen untergebracht, 3-D-Movies, Bühnenshows und Soapopera-Fetische ausgestellt. Das Kino in den Köpfen wird plötzlich begehbar und erlebbar und ein touristisches Ziel nicht auf ein Souvenir reduziert. Disney’s California Adventure dreht den Spieß genau um: Klischees und Postkarten eines Bundesstaates werden Wirklichkeit. Abends wird die Simulation in Downtown Disney fortgesetzt. In der neuen Fußgängerzone sind Läden und Restaurants angesiedelt worden. Das Entertainment geht weiter. Eintritt frei. „Shop till you drop“, könnte das Motto lauten. Statt Burger und Pommes wird Gourmet Food aufgetischt. Anaheim hat mit Downtown Disney ein neues Zentrum bekommen.

Ob der städteplanerische Kraftakt vom Publikum angenommen wird, das Überangebot eine entsprechende Nachfrage erzeugt, weiß nur die Zukunft. Der Eröffnungsevent gipfelte in einer großen Party mit vielen VIPs aus Hollywood und dem obligatorischen Feuerwerk. Zwei der inzwischen nicht mehr ganz jungen Beach Boys traten auf und gaben ihren barocken Pop-Refrain zum Besten, der tagsüber schon regelmäßig die Parkwege beschallte: „I wish they all could be California . . .“

Aber Disney’s California Adventure ist auch das kalifornische Abenteuer von Michael D. Eisner, dem Vorstandsvorsitzenden des Konzerns: Er hat das Thema Kalifornien, die sonnigen Farben ausgewählt und sich in den letzten fünf Jahren persönlich um viele Details gekümmert. Er weiß auch um die Kosten: „Wir haben hier für ein Klo praktisch das ausgegeben, was Walt (Disney) für Disneyland gezahlt hat.“ 1955 waren es nur 17 Millionen gewesen, jetzt wurden 1,4 Milliarden Dollar verbaut. Nach dem schwierigen Start von Eurodisney bei Paris muss der zweite Park an der Westküste mit seien 8.500 zusätzlichen Angestellten ein Erfolg werden. Zwar hat Eisner aus dem Imperium der Maus mit seinen Filmstudios, dem TV-Network, diversen Kabelkanälen und Kreuzfahrtschiffen längst einen Medienmulti geschaffen, der Gewinn für die Aktionäre wird aber in den Parks generiert: Sechs von zehn Dollar Profit kommen aus dem Restaurantumsatz und aus dem Verkauf von Disney-Devotionalien in den Freizeitparks.

Die Eröffnung im Februar 2001 fällt in eine Zeit, die im Zeichen einer sich abschwächenden Konjunktur und von Energieproblemen steht. Aufgrund der Engpässe bei den kalifornischen Stromlieferanten musste die benachbarte Konkurrenz, Knott’s Berry Farm in Buena Vista, bereits Energie fressende Attraktionen wie Perilous Plunge und Bigfoot Rapids vorübergehend abschalten.

TILL BARTELS lebt als freier Journalist in Hamburg, schreibt viel über die USA und hat sich auf das Thema Reisen und Internet spezialisiert.