Mehr als Erinnern

Die Ausstellung „Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti undRoma“ dokumentiert die bürokratische Organisierung der Vernichtung

Staatsminister Nida-Rümelin: „Wichtig sind die Schlüsse,die wir heute ziehen.“

von NICOLE MASCHLER

Den Nazis galten die 33.000 deutschen Sinti und Roma als „Fremdrassige“ – seit 1933 bereitete das NS-Regime mit pseudowissenschaftlichen Studien den Massenmord vor.

Die Wanderausstellung „Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma“, seit gestern in der Berliner Staatsbibliothek zu sehen, beschreibt die bürokratisch organisierte Vernichtung.

Die Ausstellung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg gliedert sich in 23 Abschnitte, die den stufenweisen Prozess der Ausgrenzung und Verfolgung durch die Nazis nachzeichnen. Insgesamt 500.000 Sinti und Roma starben in den Vernichtungslagern. Die Ausstellungsmacher haben Befehle, Organigramme und Stammbaumtafeln der Nazis zusammengetragen. Den abstrakten Dokumenten der Täter stehen die Biografien der Ermordeten gegenüber: Familienfotos, Briefe und Augenzeugenberichte.

Beide Perspektiven sind eng verwoben: Die Chronologie des Völkermordes dient als Folie, auf der die Einzelschicksale dokumentiert werden. Erst dadurch wird die Dimension der NS-Rassenpolitik deutlich. „Wenn wir Überlebenden erzählen“, sagte der Berliner Landesvorsitzende der Sinti und Roma, Otto Rosenberg, bei der Eröffnung am Donnerstagabend, „zerfällt das ganze Grauen doch in einzelne Episoden.“

Im Dezember 1936 gab Heinrich Himmler den Befehl, alle Sinti und Roma zu erfassen: 24.000 „Rassegutachten“ erstellte die Rassenhygienische Forschungsstelle daraufhin. Anhand der pseudowissenschaftlichen Untersuchungen planten die Nazis den Völkermord. „Wir mussten den Mund öffnen und bekamen mit einem seltsamen Instrument den ganzen Rachen ausgemessen, danach die Nasenlöcher, die Nasenwurzel, die Augenweite – alles, was überhaupt zu messen war“, wird der Sinto Josef Reinhardt zitiert.

Mit Fotos und Berichten will die Ausstellung zugleich ein Zeichen gegen die Entpersönlichung der Opfer setzen. Denn die Verfolgung der Sinti und Roma war zwar Völkermord, betont Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümlin, „aber eben auch ein 500.000facher individueller Mord“.

Ab März 1939 erhielten die Sinti und Roma besondere Rasseausweise, im Oktober gab Heinrich Himmler seinen berüchtigten „Festschreibungserlass“ aus: Den Sinti und Roma war künftig verboten, ihre Wohnorte zu verlassen. In Berlin hatten die Behörden schon 1936 ein „Zigeunerlager“ in Marzahn eingerichtet. Dorthin wurden alle 600 Sinti und Roma gebracht, die seit Jahren auf privaten Standplätzen im Stadtgebiet lebten. Zur Olympiade sollte die Stadt „zigeunerfrei“ sein. Der Vorschlag des Leiters des Berliner Hauptwohlfahrtsamtes, das Lager in ein KZ umzuwandeln, wurde nicht umgesetzt: 1943 deportierten die Nazis die Bewohner nach Auschwitz. Dies blieb auch der Bevölkerung nicht verborgen. In einem Brief an die Behörden beschwert sich die Berlinerin Elfriede Ganz im März 1943 über ihre Arbeitskollegin Margarete Herzstein. „Ich hatte ihr, als sie noch bei uns im Geschäft war, ein Kleid geborgt, das sie mir nicht zurückerstatten konnte, da sie ganz plötzlich nicht mehr zurückkam. Leider ist es mir nicht möglich, über das Kleid hinwegzukommen.“ Das Kleid: dunkelblau, hochgeschlossen, mit Weiß besetzt und weitem Rock. Über das Schicksal ihrer Arbeitskollegin dagegen kein Wort.

„Jede demokratische Gesellschaft ist gefährdet, wenn nicht Zivilcourage die Grundhaltung ist“, so Kulturstaatsminister Nida-Rümelin. Es könne nicht allein darum gehen, die historische Erinnerung an den Völkermord aufrechtzuerhalten. Wichtig seien die Schlüsse, „die wir für unsere heutige Zeit ziehen“.

Auch die Ausstellung will mehr als erinnern, so dass nicht länger, wie in der Vergangenheit geschehen, unkritische Vorurteile über die vermeintliche Lebensrealität der Sinti und Roma übernommen werden.

Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, erinnert in seiner Rede an das jahrzehntelange Verdrängen und Leugnen des Völkermords in der Bundesrepublik. Dabei, so Rose, habe es keine Familie gegeben, die nicht Verluste hatte. Doch erst 1981 stimmte der Bundestag einer Pauschalentschädigung der Opfer von bis zu 5.000 Mark im Rahmen des „Härtefonds“ zu.

„Bis zu dieser Ausstellung musste ein langer Weg Erinnerungsarbeit zurückgelegt werden“, sagte Peter Steinbach, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Tatsächlich hat erst die SPD-Regierung 1982 den Völkermord an den Sinti und Roma anerkannt. Vorausgegangen war ein Hungerstreik von Opfern im ehemaligen KZ Dachau. „Das war das Verdienst ihrer Bürgerrechtsbewegung, die sich nicht beirren ließ“, betonte Steinbach. Die Forschung habe sich der Verfolgung der Sinti und Roma „viel zu spät“ angenommen. In der Bundesrepublik, sagt Landesvorsitzender Rosenberg bitter, hofften nicht wenige, dass die Überlebenden endlich mit ihren Erzählungen aufhörten. Doch sie würden nicht ruhen, „bis die Verbrechen an meinem Volk endlich Aufnahme in die Geschichtsbücher finden“.

Die Ausstellung läuft mit Begleitprogramm bis zum 12. April 2001 in der Berliner Staatsbibliothek, Potsdamer Straße 33. infos unter www.sbb.spk-berlin.de