Meine Theorie des Fernsehens

Welche Bücher ich gerne verlegen würde (3): Arnulf Conradi, Berlin Verlag/Siedler Verlag

Der immer umtriebige John Brockman, der in New York eine sehr erfolgreiche Agentur für wissenschaftliche Werke betreibt, schickte vor einiger Zeit eine einfache Frage in alle Welt. Sie lautete: Welches war die einflussreichste menschliche Erfindung? Historiker und Wissenschaftler ließen sich das nicht entgehen, und da Brockman alles ins Internet setzt, dessen er habhaft werden kann, waren die Antworten dann kurz darauf zu lesen – eine belehrende und zum Teil zutiefst erheiternde Lektüre.

Eine feministische Wissenschaftlerin antwortete, der Preis der folgenreichsten Erfindung müsse an die Brille gehen, da sie es alten Männern erlaubt habe, ihre Herrschaft weit über die ihnen gesetzten biologischen Grenzen hinaus auszuüben – mit den bekannten verheerenden Folgen.

Ein Soziologe nannte das Fernsehen. Nichts – auch die beiden Weltkriege nicht – habe das moderne Leben so sehr verändert und gestaltet wie die Erfindung und der globale Siegeszug dieses Mediums. Jahrtausende alte Verhaltensformen der Menschen seien in wenigen Generationen ausgelöscht worden, die Kommunikation, die Politik, die Moral, die gesellschaftliche Ordnung selbst seien vom Fernsehen gewissermaßen in ihre Bestandteile aufgelöst und neu zusammengesetzt worden.

Es gab natürlich noch mehr Kandidaten: der Pflug, die Druckerpresse, die Feuerwaffe, das Telefon, die Uhr, der Computer – und, bei Brockman unvermeidlich, das Internet. Aber am interessantesten fand ich die Argumentation für das Fernsehen. Zumindest ist es ein sehr nahe liegendes Medium, eines, das praktisch jedem täglich vor Augen steht und gerade deshalb – wie Edgar Allen Poe wusste – leicht übersehen wird.

Über das Fernsehen gibt es keine Theorie. Es gibt Bemerkungen beim alten Marshall McLuhan, es gibt hier und da etwas bei neueren Autoren, aber es gibt keinen stringenten Versuch, das Fernsehen in seiner Wirkung und seiner Struktur zu erfassen. Das Buch hätte ich gerne.

Was es gibt, sind ein paar Bausteine: McLuhan hat gesagt, das Fernsehen sei ein „cooles“ Medium, deshalb sei Hitler nur in den Tagen des Radios, des „heißen“ Mediums, vorstellbar. Im Fernsehen hätte er wie auch Mussolini lächerlich gewirkt. Gerd Ruge hat geschrieben, dass der Zusammenbruch der diktatorischen Regime in Osteuropa auch auf die Wirkung des Fernsehens zurückzuführen sei. Sobald Ceaușescu und Frau in Nahaufnahme gezeigt wurden, sei es um sie geschehen gewesen. Und um ein ganz frisches Beispiel zu zitieren: Hermann Lübbe hat in seinem neuen Buch „Ich entschuldige mich“ von der „totalitarismuszersetzenden“ Wirkung der Massenkommunikationstechnik gesprochen. Interessant wäre sicher auch die Frage, ob die öffentlichen Bußrituale, die er so scharfsinnig behandelt, ohne das Fernsehen überhaupt denkbar wären. Die Moralisierung der Politik war wahrscheinlich eine Folge der „Schnelligkeit“ des Mediums, denn dieser Moralismus schätzt, wie Lübbe schreibt, „den kurzen Prozess“. Authentizität und Vertrauen können im Fernsehen historische Wirkung entfalten: Lyndon Johnson soll angeblich gesagt haben, dass der Vietnamkrieg nicht mehr zu gewinnen war, als der „Anchorman“ der beliebtesten amerikanischen Nachrichtensendung, Walter Cronkite, sich gegen den Krieg ausgesprochen hatte.

Ist das Fernsehen gleichzeitig zu bedeutend und zu trivial, um es theoretisch zu erfassen? Zu schwammig und zu vielgestaltig? Über seine enorme Wirkung sind sich alle potenziellen Autoren, mit denen ich gesprochen habe, einig. Aber niemand war bisher bereit, so etwas wie „Bausteine zu einer Theorie des Fernsehen“ zu schreiben.