Ohnmächtige Trauer

Maul- und Klauenseuche, BSE, Schweinepest: Massenhaft werden gesunde Tiere gekeult. Viele Landwirte fühlen sich hilflos ausgeliefert und werden traumatisiert

Landwirte nahmen Abschied von ihren gekeulten Tierenund trauertennoch lange um sie

Immer wieder werden neue Verdachtsfälle von BSE und Maul- und Klauenseuche gemeldet. Doch ist diese Situation gar nicht so neu: 1993 etwa brach in Deutschland die Schweinepest aus, die sich über drei Jahre in mehreren Schüben hinzog. Hunderte von Landwirtsfamilien waren betroffen. So mussten bis Mitte 1994 allein in Niedersachsen 300.000 Schweine gekeult und 800.000 gesunde Schweine im Rahmen staatlicher Ankaufaktionen vernichtet werden. Dies bedeutete etwa, dass im Kreis Vechta fast 70 Prozent, in Cloppenburg 55 Prozent und in Diepholz 50 Prozent aller Schweine getötet wurden. Bis 1995 wurden weitere Millionen gesunder Schweine vernichtet.

Ob bei Schweinepest, BSE oder Maul- und Klauenseuche: Die Lage der betroffenen Bauern ist vergleichbar. Sie müssen die Massentötung vorwiegend gesunder Nutztiere erleben; von der Seuche betroffene Höfe werden räumlich isoliert; die Behörden ordnen Sperr- und Beobachtungsgebiete an. Gleichzeitig gelten extrem lange Wartezeiten, bis wieder Tiere aufgezogen werden dürfen, also „Wiederaufstallung“ möglich ist. Zudem müssen die Bauern starke Einkommensverluste verwinden, weil die Verbraucher verängstigt sind und der Fleischkonsum zurückgeht. Und schließlich müssen die Landwirte damit leben, dass sie als die eigentlichen Schuldigen an der industriellen Tierproduktion betrachtet werden.

Dies alles führt dazu, dass die Massentötung von Tieren von den Landwirten als traumatisch erlebt wird. Das beginnt mit dem Ausbruch der Seuche, mit der diffusen Angst, sie könnte auch den eigenen Betrieb treffen. Es folgen das Erlebnis der Massenkeulung und die lange Zeit des leeren Stalls. Schließlich ist da immer die Sorge, diese Erfahrung könnte sich wiederholen, die Seuche zurückkehren. Das eigene Leben erscheint vollkommen unplanbar, außerhalb jeder Kontrollmöglichkeit.

Bei der Schweinepest fanden die ersten Tötungen noch in Tierkörperbeseitigungsanlagen statt. Doch als es dort zu Engpässen kam, wurden massenhaft Schweine auf den Höfen gekeult – obwohl auf den meisten die Pest gar nicht ausgebrochen war. Diese unmittelbare Teilnahme an der Vernichtung hat die Bauern besonders traumatisiert: Einsehbar ist für sie, dass kranke Tiere getötet werden müssen. Doch unerträglich wird es, wenn gesunde Tiere nur vorbeugend vernichtet werden – und dann gleich der ganze Stall. Besonders die massenhafte Tötung von tragenden Sauen und neugeborenen Ferkeln stellte für die Bauern eine absolute Überschreitung ethischer Grenzen dar. Landwirte gerade mit kleinen Betrieben erzählten mir, dass sie von ihren Tieren Abschied genommen und auch um sie getrauert hätten. Noch Jahre später kam es zu Tränenausbrüchen und starken Ohnmachtsgefühlen, als sie die Massentötungen schilderten.

Tierseuchen müssen als eine existenzielle Erfahrung für die Bauern betrachtet werden. Sie gleichen einem typischen kritischen Lebensereignis, wie plötzlicher Arbeitslosigkeit oder einer lebensgefährlichen Erkrankung. Empfindungen wie innere Leere, Handlungsohnmacht und anhaltende Trauergefühle sowie posttraumatische Belastungssymptome wie Übererregung, Schlaflosigkeit, Albträume, Angstzustände, Depressionen und Selbstmordgedanken bestätigen dies.

Zu dem Empfinden von Ohnmacht trug bei, dass sich die Bauern der Politik ausgeliefert fühlten. Denn bis 1990 wurde die Verbreitung der Schweinepest durch Routineimpfungen vermieden. Doch danach verbot die EU diese Prophylaxe. Durch konsequentes Nichtimpfen und Vernichtung aller eventuell angesteckten Tiere sollten die Seuchenviren ausgerottet werden. Nur noch im äußersten Notfall war eine Impfung erlaubt. Natürlich wurden während der Schweinepest solche Notanträge gestellt – doch aus handelspolitischen Gründen wurde ihnen nicht stattgegeben: Denn sind die Tiere geimpft, sind sie durch Testmethoden nicht mehr von kranken Schweinen zu unterscheiden, bei denen sich nur noch keine Symptome zeigen. Ergebnis: Länder, die impfen, können nicht ins Ausland exportierten. Die Angst der Importeure, auch die Seuche einzuführen, ist zu groß. Es blieb also bei der Massentötung. Nicht nur seuchenerkrankte und -verdächtige, sondern auch nur ansteckungsverdächtige Schweine mussten getötet werden – so sieht es das Tierseuchengesetz zwingend vor.

Diese Impfverbote bei der Schweinepest waren für die Landwirte nicht nachvollziehbar: Die Betroffenen definierten sich als Opfer politischer Eigenmächtigkeit. Sie erlebten die staatliche Seuchenpolitik als einen frontalen Angriff auf ihre – vermeintlich – selbstständige bäuerliche Lebensform und betriebwirtschaftliche Autonomie. Gleichzeitig erschütterte diese neue Art der Seuchenbekämpfung, nicht mehr zu impfen, das Vertrauen in den Fortschritt der Veterinärmedizin. Bisher hatte gerade sie den Bauern viel von der existenziellen Angst genommen, die die Landwirtschaft seit Jahrtausenden begleitet. Endlich schien man in relativer Sicherheit und Beständigkeit wirtschaften und arbeiten zu können, unbedrängt von Krankheiten. Diese Zuversicht war plötzlich nachhaltig erschüttert. Dies machte den Kontrollverlust umso traumatisierender.

Die existenzielle Erfahrung der Tierseuche konnte von den Bauern nur schwer verabreitet werden. Zwar hatten sie die Möglickeit, ländliche Beratungsinstitutionen wie Ärzte, Kirche oder Psychologen aufzusuchen – doch die waren von der bislang unbekannten Seuchenproblematik oft überfordert, berichteten die Landwirte. Um das Drama der Bauern zu verstehen, ist es notwendig, Tierkrankheiten nicht ausschließlich – wie derzeit in den Medien – anhand der Stereotype von „ökologischer Landwirtschaft“ und „industrieller Massentierhaltung“ zu diskutieren. Im bäuerlichen Milieu werden Hof, Tiere und Pflanzen auch heute noch als die Substanz der wirtschaftlichen, familiären sowie biografischen Existenz und Identität begriffen. Erst vor dem Hintergrund dieser besonderen Handlungs- und Orientierungsmuster können die traumatisierenden Folgen von Seuchen und Keulungen wirklich verstanden werden.

Die Massentötungvon tragenden Sauenund neugeborenenFerkeln war für dieBauern unerträglich

Staat und Agrarpolitik sollten sich nicht nur einseitig den betriebswirtschaftlichen und ökonomischen Auswirkungen von Seuchen widmen. Sie müssen sich ebenso der psychosozialen Ebene von Tierseuchen öffnen: sowohl im Rahmen von Programmen zur Umgestaltung der industriellen Landwirtschaft, der „Agrarwende“, als auch bei der aktuellen Durchführung der Seuchenbekämpfung. Psychosoziale und kirchliche Beratungseinrichtungen, aber auch landwirtschaftliche Familienberatung und Sorgentelefone sollten schnellstens spezielle Beratungskonzepte entwickeln, „SeuchenberaterInnen“ qualifizieren und zum Beispiel mobile Beratungsteams ausbilden, die LandwirtInnen vor, während und nach Seuchenfällen sowie Keulungen betreuen.

KARIN JÜRGENS