Alles, was rechts ist

von LUKAS WALLRAFF

Otto Schily hatte sich auf den Tag X gut vorbereitet. Der Innenminister kannte die Zahlen schon lange, und er wusste, welche Schlagzeilen die Jahresstatistik des „Kriminalpolizeilichen Meldedienstes Staatsschutz“ auslösen wird, die er gestern der Öffentlichkeit präsentieren musste. Denn die nackten Zahlen sind erschreckend. So registrierte die Polizei im vergangenen Jahr insgesamt 15.951 rechtsextremistische, fremdenfeindliche und antisemitische Straftaten, was einer Zunahme um 58,9 Prozent entspricht. „Besonders besorgniserregend“ ist laut Schily dabei der Anstieg der Gewaltdelikte von 746 auf 998.

Weil Schily nicht als zahnloser Tiger dastehen wollte, war er schon in den vergangenen Wochen als unermüdlicher Kämpfer gegen rechte Gewalt im Einsatz. Mit Polizeihelm auf dem Kopf und Schlagstock in der Hand präsentierte Schily stolz die neue Sondereinsatzgruppe des Bundesgrenzschutzes in Brandenburg, die auf Bahnhöfen und anderen „Treffpunkten der rechten Szene“ für Ruhe und Ordnung sorgen soll. Mit markigen Worten verkündete Schily immer wieder, dass die Bundesregierung „mit der gebotenen Härte und Entschiedenheit“ gegen die rechten Schlägertrupps vorgehen werde. Mit einem Aufsehen erregenden „Aussteigerprogramm“ für geläuterte Neonazis kündigte Schily nachhaltige Maßnahmen an.

Und sicher war es auch kein Zufall, dass Jugendministerin Christine Bergmann erst am Dienstag umfangreiche Unterstützung für Projekte gegen rechts versprach. Insgesamt 65 Millionen Mark stehen dafür zur Verfügung.

Das Timing war geschickt. Denn so konnte Minister Schily gestern neben den erschreckenden Zahlen auch eine lange Liste der „Maßnahmen der Bundesregierung gegen den Rechtsextremismus“ vorlegen. Das macht sich natürlich gut an einem Tag, an dem die großen Nachrichtenagenturen aufgrund seiner Zahlen über „mehr rechtsextremistische Straftaten als je zuvor“ berichten oder titelten: „Zahl der rechtsextremistischen Straftaten drastisch gestiegen“.

Diese Schlagzeilen waren zu erwarten. Eine genauere Analyse ist jedoch weitaus komplizierter. So gibt die Gesamtzahl der Straftaten nur bedingt Aufschluss über den Ernst der Lage – schließlich wird hier von Hakenkreuzschmierereien bis fremdenfeindlichen Gewalttaten alles zusammengefasst, was irgendwie rechts ist.

Wie bedrohlich die Situation in den verschiedenen Bundesländern wirklich ist, ließe sich nur durch einen differenzierten Ländervergleich feststellen. Diesen legte Schily gestern nicht vor.

Ohne Zweifel lässt sich der „dramatische“ Anstieg der rechtsextremistischen Straftaten zum Teil auf eine erhöhte Anzeigebereitschaft der Bevölkerung und auf eine größere Wachsamkeit der Behörden zurückführen. „Die Polizei reagiert auch auf öffentliche Debatten“, sagte der Trierer Rechtsextremismusforscher Helmut Willems gestern der taz. So seien nach der intensiven Medienberichterstattung im vergangenen Sommer mehr Straftaten in die Statistik der rechten Gewalt aufgenommen worden, die vorher anderen Bereichen der Kriminalitätsstatistik zugeordnet wurden.

Die Zählweise ist jedoch weiterhin je nach Bundesland äußerst unterschiedlich. Das Grundproblem sieht Willems in der Frage: „Wie definiert man überhaupt Rechtsextremismus?“ Die Länderbehörden müssten sich endlich auf ein einheitliches Verfahren einigen.

„Das Personal muss geschult werden, in den Polizeidienststellen muss ein ähnliches Kompetenzniveau erreicht werden“, fordert Willems. Davon könne noch keine Rede sein. Bislang sei in diesem Bereich „überhaupt nichts geschehen“.

Doch selbst wenn die Beamten kompetenter und die Zählweise einheitlicher wird, wird das wahre Ausmaß der rechten Gewalt im Dunkeln bleiben. „Man muss immer davon ausgehen, dass wir in der offiziellen Statistik nur einen Teil der Gewalt abgebildet sehen“, betonte Willems, „was in der Statistik enthalten ist, ist nur das, was der Polizei gemeldet wurde.“ Bisher gebe es in Deutschland „so gut wie keine vernünftige und solide Dunkelfeldforschung“.

Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen ist eine der wenigen Institutionen, die daran arbeiten, der Dunkelziffer näher zu kommen. Dort laufen derzeit Studien, die die Gewaltbereitschaft von rechten Jugendlichen untersuchen und auch nach Befragung von Jugendlichen selbst erhobene Daten über Straftaten verzeichnen, die in den Polizeiberichten bisher nicht auftauchen.