Mehr als nur schlichte Tabubrüche

■ „Das Gefängnis der Wünsche“: Diskussion über de Sade im Literaturhaus

Immerhin verdanken wir den Ereignissen um 1968 eine wunderbare Paradoxie. Bestimmte die politische Philosophie seit Tausenden von Jahren das Politische als öffentliche Sphäre im Unterschied zu den häuslichen Angelegenheiten, sollte von nun an das Private selbst politisch sein. Folgerichtig rückte die Sexualität in den Mittelpunkt der neu begründeten Aufmerksamkeit.

Dabei ist der Sex eigentlich nie eine reine Privatangelegenheit gewesen, sondern markierte schon immer einen Knotenpunkt gesellschaftlicher Praktiken. In der Antike dienten die sexuellen Verhaltensweisen den männlichen Bewohnern der Polis dazu, aus ihrem Leben ein Kunstwerk zu machen und sich als Moralsubjekte herzustellen. Die christliche Tradition begann dann über die Beichte, in die Menschen hineinzuhorchen. Bis hin zu Freud sollte der Sex die Wahrheit des Individuums offenbaren.

Was die Texte des Marquis de Sade angeht, erscheint es interessanter, sie auf diese Art von Gesellschaftlichkeit abzutasten, als in ihnen einfach nur Tabubrüche zu sehen. Die wohl folgenreichste These haben Adorno und Horkheimer in ihrer Dialektik der Aufklärung formuliert. Sie behaupten nämlich, dass de Sades Gewaltexzesse keinesfalls als verborgene Schattenseite unserer Zivilisation aufzufassen seien, die hin und wieder hervorbricht. Vielmehr zeige er das von Bevormundung befreite bürgerliche Subjekt, das sich seines „Verstandes ohne Leitung eines anderen“ (Kant) bedient. De Sade wäre nach dieser Lesart die Essenz der Aufklärung ohne sentimentale Verkleidungen. „Vernunft ist das Organ der Kalkulation, des Plans, ihr Element ist die Koordination“, schreiben Adorno/Horkheimer. Und tatsächlich folgen de Sades perverse Körperpartituren einer strengen Logik. Keine wahre Individualität der Menschen offenbart sich in der Lust, sondern nur eine mathematische Disziplin der Orgie.

Hier werden die Züricher Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen, der Berliner Kulturwissenschaftler Hartmuth Böhme und der Berliner Schriftsteller Thomas Brasch anknüpfen, wenn sie ihre Diskussion über de Sade zwischen den Polen Gender Studies, Kulturwissenschaft und Psychoanalyse eröffnen. Selbst wenn das Werk de Sades in seiner übertriebenen Brutalität wenig geeignet erscheint, das Bilderrepertoire in unserem imaginären Bereich auszubauen, so gibt es doch immer noch Anlass zu vielen spannenden Fragen – etwa was es über den Status moderner Subjektivität verrät oder inwiefern Unterwerfungsrituale an Geschlechterrollen gebunden sind.

Ausgehen wird die heutige Diskussion von Philip Kaufmans de Sade-Film Quills – Macht der Besessenheit, der voraussichtlich am 8. März anläuft.

Aus der Adaption eines Stückes von Doug Wright über de Sades Gefangenschaft in der Pariser Irrenanstalt Charanton sollen Ausschnitte gezeigt werden. Daran eine Diskussion mit den oben genannten Fragen anzuschließen, dürfte indes schwierig werden. Denn Kaufman scheint vor allem der Einfluss von Fiktion auf das Leben interessiert zu haben. Quills diskutiert sozusagen exemplarisch an de Sade, ob Kunst eher kompensatorische oder anstiftende Wirkung habe. Sven Opitz

heute, 20 Uhr, Literaturhaus