Falsch gelogen

Realität als schillerndes Kaleidoskop: Zwei von sieben „Todsünden“ Rafael Spregelburds  ■ Von Petra Schellen

Wahrscheinlich redet er sich das ein: dass er seinen Zyklus, dessen vierten Teil er zurzeit als Gastautor fürs Schauspielhaus schreibt, aus sieben Teilen komponiert, weil sich das besser verkaufen lässt. In Wirklichkeit glaubt Rafael Spregelburd wahrscheinlich sehr wohl an die magische Zahl „7“, die auch Hieronymus Bosch im 15. Jahrhundert bewog, die Sieben Todsünden zu malen. Oder ist der Autor aus Buenos Aires in Wirklichkeit ein Pragmatiker? Einer, der mit Begriffen wie „Sünde“ ironisch verfährt?

„Sünde ist für mich ein Ergebnis gesellschaftlicher Konventionen“, sagt Spregelburd. „Im Mittelalter, als die Sünde sozusagen erfunden wurde, bedeutete Hochmut, sich über Gott zu erheben. Heute bedeutet Hochmut, sich über andere Menschen zu erheben. Man kann also sehen, wie stark sich die Definitionen geändert haben, und das Problem der Moderne ist, dass kein Konsens mehr existiert: Was für mich gut ist, kann für meinen Nachbarn schlecht sein; was für den Präsidenten gut ist, ist es nicht fürs Volk.“ Die Menschheit habe ihr humanes Projekt verloren, konstatiert Spregelburd. „Freiheit“ sei höchs-ter Wert, aber nicht mehr inhaltlich gefüllt, und die Moderne funktioniere nicht als Ordnung.

Aber eigentlich ist er so traurig darüber nicht, gibt er doch selber zu, dass die auch mittelterlichen „Neid“- und „Gier“-Monster weitaus unterhaltsamer sind als die „säuberlich geordnete Renaissance“. Im Mittelalter, sagt er, habe es einen festen Code gegeben, habe nicht nur Bosch allgemein bekannte Bildsymbole benutzt.

Und was machen wir heute mit solchen verrätselten Bildern? „Ich finde es fast interessanter, meine eigenen Schlüsse zu ziehen“, sagt Spregelburd. Wenn man die moralisch-ordnende Absicht Boschs ausblende, könne man seine Bilder durchaus als mehrdeutig empfinden: „Es geht doch eigentlich ziemlich lustig zu in der Neid-Szene“...

Und dieser Ambivalenz hat sich auch Spregelburd, der Boschs Original vor Jahren im Madrider Prado sah, verschrieben: Appetitlosigkeit, Überspanntheit, Bescheidenheit heißen die schon fertigen, Dummheit das gerade wachsende Teil des siebenteiligen Zyklus; Parallelen zum mittelalterlichen, kirchlich festgelegten „Todsünden“-Kanon finden sich zunächst kaum. „Ich habe meine eigenen Übersetzungen für die Begriffe gewählt“, betont Spregelburd, dessen Bescheidenheit für „Stolz“ steht und die „Dummheit“ für „Geiz“.

Seine Stücke seien wie eine Übersetzung zu lesen, der das Lexikon abhanden gekommen sei: Spregelburd setzt dem Publikum das Resultat vor, Rückschlüsse ziehen muss man dann selber. Immer wieder wird der Zuschauer etwa in der Appetitlosigkeit auf sich zurückgeworfen, und das hart und subtil zugleich: Über einen Adoptionswunsch unterhalten sich in der ersten Szene Mann und Frau, und dass sie keine Kinder haben, scheint klar. Und doch erwähnt die Frau in der nächsten Szene wie selbstverständlich ihre Tochter; der oberschlaue Zuschauer hatte zu schnell gefolgert und wird sehr zügig eines Besseren belehrt. Dabei bleibt der Autor durchaus konsequent: „Die Informationen widersprechen einander nicht. Es kommen nur immer wieder neue hinzu, die die Konstellation neu ordnen und verschieben.“ Und die aus stetig wechselnder, analog zur Erdachse torkelnder Perspektive wahrgenommen werden müssen.

Wie verhält es sich also mit Wahrheit und Lüge in Spregelburds Appetitlosigkeit? „Solche Begriffe spielen keine Rolle. Wichtig ist zu begreifen, dass wir über die Realität nichts wissen können. Dass mehr Details nicht näher an das heranführen, was die Welt im Innersten zusammenhält: „Das, was sich real nennt, ist schillernd und mutiert ständig.“ Deshalb gefällt Spregelburd die Chaostheorie auch so gut: Weil sie zeigt, „dass wir nichts wissen und vorhersagen können. Inzwischen kann man zwar erklären, warum wir mithilfe der Logik nichts vorhersagen könnten.“ Aber letztlich begreifbar sei es nicht, dass die Realität „ein Ganzes ist, das nicht aus Teilen besteht“, wie es Physik-Philosoph Harald Armanspacher formuliert.

Genauso wenig, wie die argentinische Literatur – seit Ende der Diktatur – „nicht mehr der Notwendigkeit gehorchen muss, moralisch zu sein, so dass es derzeit keinen klaren Trend gibt“. Im Gegenteil, sagt Spregelburd: „In Buenos Aires werden Stücke auch in großen Häusern vor 30 bis 40 Personen gespielt, ohne dass sich jemand deswegen sorgt. Irgendeine Nische, darauf vertraut man, werden die Stücke schon finden. Und was die Massen anzieht, ist ja nicht notwendigerweise überlebensfähig.“ Ob Spregelburds Stücke überleben werden? Schon wieder so eine Frage, würde er sagen, die dem Bedürfnis des menschlichen Geistes nach (Ein-)Ordnung entspringt.

Premiere von Die Überspanntheit und Die Appetitlosigkeit heute, 20 Uhr, Neues Cinema (Steindamm 45)