Sucht nach Sahnehäubchen

Bei der Hallen-WM der Leichtathleten am Wochenende in Lissabon gedenkt der kubanische Hürdensprinter und Dominospieler Arnier García zu beweisen, dass sein Olympiasieg kein Zufall war

„Ich habe meine Chance in Sydney gewittert und sie genutzt. Nicht mehr und nicht weniger.“

aus Havanna KNUT HENKEL

Die Dominosteinchen klackern gegeneinander, es wird getuschelt und gelacht. Hoch her geht es in den Katakomben des Panamerikanischen Stadions in Havanna, wo sich die kubanische Hürdenmannschaft um einen wackligen Tisch versammelt hat. Mit einem breiten Grinsen schiebt Arnier García seinen letzten Stein in Position – wieder einmal hat er gewonnen.

Mit Domino vertreibt sich Arnier García liebend gern die Zeit zwischen den Trainingseinheiten. Laut geht es dabei zu, und wer zu langsam ist oder nicht den richtigen Stein hat, muss den Spott der Kameraden über sich ergehen lassen. Für Arnier kein Problem, denn der 24-jährige Modellathlet mit dem hohen Haaransatz ist von der schnellen Truppe. Fix ist er nicht nur am Dominotisch, sondern auch auf der Tartanbahn.

Die Mittagspause ist vorbei. Santiago Antunes ruft zur zweiten Trainingseinheit. Eilig haben es die Hürdencracks nicht, ihrem Trainer in die Sonne des Panamerikanischen Stadions im Osten Havannas zu folgen. Die letzten Züge werden scherzend getätigt, ehe sich die ersten Sportler erheben, die Turnschuhe schnüren, ins Stadion trotten und beginnen sich warm zu machen. Unter den letzten ist Arnier García, der sich gemeinsam mit Joel Hernández, seinem ärgsten Widersacher im Team, die Oberschenkelmuskeln dehnt.

Antunes mustert durch die Gläser seinen poppigen Sonnenbrille aufmerksam die beiden Athleten. Die treiben sich im Training gegenseitig an, analysieren und korrigieren ihre jeweiligen Fehler. Für Antunes eine ideale Konstellation. Eine Zeit von 12,88 Sekunden traut der 50-jährige Coach seinem Musterschüler Arnier García noch in dieser Saison zu. Immerhin drei Hundertstel weniger als der aktuelle Weltrekord, den der Brite Colin Jackson seit 1993 hält, und zwölf Hundertstel unter der Bestzeit Garcías. „Mit seinen 24 Jahren ist Arnier im besten Alter“, begründet der graumelierte Trainer, der seit 1985 die kubanischen Hürdensprinter betreut, die hohen Erwartungen.

Mit denen hat Arnier García genauso gelernt umzugehen wie mit den Verletzungen, die ihn in der Vergangenheit immer wieder zurückwarfen. Das Ticket für die Olympischen Spiele in Atlanta 1996 war für den damals 20-Jährigen schon gebucht, als ihn eine Muskelverletzung außer Kraft setzte. Und auch für 1997 hatte sich der in Santiago de Cuba aufgewachsene Sportstudent viel vorgenommen. Gut war er in die Saison gestartet und hatte sich bei den Hallenweltmeisterschaften den Hürdentitel geholt. Doch beim Saisonhöhepunkt, der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Athen, musste er erneut passen.

Die muskulären Probleme hat García mit Hilfe der medizinischen Abteilung in den Griff bekommen, sodass er in den beiden vergangenen Jahren endlich auftrumpfen konnte. 1999 ließ er die Fachwelt aufhorchen, als er bei der WM in Sevilla hinter Colin Jackson ins Ziel einlief. Und im vergangenen Jahr holte er sich seine Form und das nötige Selbstvertrauen für Sydney bei zahlreichen Meetings in Europa. Im Gegensatz zu den großen Favoriten Colin Jackson und dem US-Amerikaner Allen Johnson gelang es dem selbstwusst und überaus locker auftretenden García, seine Form zu konservieren und die Konkurrenz im Finale der Olympischen Spiele zu düpieren. Mit exakt 13 Sekunden lief er wie angekündigt eine neue persönliche Bestzeit.

Respekt vor großen Namen hatte García nie, das wurde ihm in Sydney gelegentlich als Arroganz ausgelegt. Den Vorwurf will García nicht stehen lassen. Er respektiere die Konkurrenz, erstarre aber nicht in Ehrfurcht vor Jackson oder Johnson. „Ich habe meine Chance in Sydney gewittert und sie genutzt. Nicht mehr und nicht weniger. Das hätte jeder andere Athlet genauso gemacht.“ Doch wie der Shootingstar der Hürdenszene in Sydney gewonnen hat, das war auch für seinen Trainer eine Überraschung. Nach dem Halbfinale hatte Antunes García noch wegen taktischer Fehler kritisiert. Am Finale hatte er dann nichts mehr auszusetzen: „Es war ein perfektes Rennen und das Sahnehäubchen für eine großartige Saison.“

Während die Leistungsexplosion Garcías international als Überraschung gewertet wurde, ist sie für Antunes das Ergebnis kontinuierlicher Arbeit. Seit Barcelona 1992 waren seine Athleten immer in den großen Finals dabei, nur zum Sprung aufs Treppchen habe es eben nicht gereicht, sagt er. Von Arnier sei jedoch noch einiges zu erwarten, und mit Joel und dem amtierenden Jugendweltmeister Ajunier Hernández habe er noch zwei weitere starke Athleten über 110 Meter Hürden im Team.

Beim Hallenauftakt, dem internationalen Meeting in Stuttgart Anfang Februar, hat sich Arnier bereits wieder in Szene setzen können. Über 50 Meter Hürden holte er sich den Titel, während er sich über 60 Meter dem Deutschen Falk Balzer beugen musste. Das nahm Arnier García recht locker. „Abgerechnet wird zum Schluss“, kommentierte García lächelnd seine Niederlage. Doch mit Balzer muss García in Lissabon nicht mehr rechnen. Der ist wegen Dopings aus dem Verkehr gezogen. Und García hat ohnehin nur die großen Titel im Visier. Am liebsten möchte er gemeinsam mit seinem Kumpel Joel auf dem WM-Treppchen stehen – ganz oben versteht sich. Danach kann er dann wieder in Ruhe seiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen: dem Dominospielen.