Globalisierung wird Parteichinesisch

Achtzehn Monate vor dem Führungswechsel in Peking tritt der alljährliche Nationale Volkskongress zusammen

Korruption, Extravaganz und Bürokratismus sind gravierende Phänomene

PEKING taz ■ Jedes Jahr beim Nationalen Volkskongress (NVK) im März erneuert China sein politisches Vokabular. Die gespitzten Ohren von knapp dreitausend von der Partei handverlesenen Delegierten lauschen gespannt dem alljährlichen Rechenschaftsbericht der Regierung, aus dem es die neuen politischen Stichwörter und Slogans herauszuhören gilt. Neu in diesem Jahr: Das Eingeständnis einer unwiderruflichen „Tendenz zur wirtschaftlichen Globalisierung“ und der Entwurf einer „Strategie für eine nachhaltige Entwicklung“. Weder Globalisierung noch Nachhaltigkeit gehörten bisher zum redetauglichen Wortschatz chinesischer Parteiführer.

Im Übrigen aber bot die zweistündige Ansprache von Premierminister Zhu Rongji neben der von ihm gewohnten Bürokratenschelte und realistischen Einschätzung wirtschaftlicher Probleme wenig neue Reformansätze – und das, obwohl Zhu auch nach drei Jahren im Amt immer noch als wichtigster Vertreter des reformorientierten Parteiflügels gilt. Doch herrscht unter den Kommunisten derzeit kein Debattenbedarf.

In größtmöglicher Abgeschlossenheit will sich die Parteiführung mit ihrer Gefolgschaft im NVK und den Parteigremien auf den schon jetzt am politischen Horizont winkenden Parteitag im Herbst 2002 vorbereiten. Zu diesem Termin wird der Rücktritt der gesamten Führungsspitze um Zhu, Staats- und Parteichef Jiang Zemin und NVK-Vorsitzenden Li Peng erwartet. Und frühestens dann wird man sehen, ob die Nachfolgeriege um den heutigen Vize-Präsidenten und designierten Parteichef Hu Jintao mit Zhus neuen Begriffen weiter reichende politische Ideen formuliert.

Das mindert in der Zwischenzeit nicht das Interesse am derzeitigen Reformstand. Zhus Bilanz fiel in diesem Jahr breiter aus als sonst, weil der NVK diesmal einen neuen Fünfjahresplan verabschieden will. Stolz vermeldete der Regierungschef ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von 8,3 Prozent in den letzten fünf Jahren, dem nun Wachstumsraten um 7 Prozent bis 2006 folgen sollen. So könne China nach einer Vervierfachung des Bruttosozialprodukts von 1980 bis heute die Größe seiner Volkswirtschaft bis zum Jahr 2010 noch einmal verdoppeln.

Das erscheint zwar auch aus westlicher Expertensicht realistisch, kann aber die von Zhu durchaus gesehenen Risiken der Entwicklung nicht verbergen: „Wissenschaft, Technik und Bildung sind relativ rückständig, die Innovationsfähigkeit ist relativ schwach, es herrscht Knappheit an Wasser, Erdöl und anderen wichtigen Ressourcen, die ökologische Umweltbilanz verschlechtert sich, der Beschäftigungsdruck wird größer, das Einkommen der Bauern und eines Teils der Stadtbewohner steigt nur langsam, das Einkommensgefälle vergrößert sich, Unterschlagung, Korruption, Extravaganz und Verschwendung sowie Formalismus und Bürokratismus sind gravierende Phänomene.“ Stellenweise klingen Zhu-Reden wie ein Bericht des World-Watch-Instituts.

Risikogesellschaft China – in diesem Begriff könnte man die Grunderkenntnisse der Regierungstätigkeit Zhus zusammenfassen. Ständig spielt der Premier den Feuerwehrmann: Er muss – laut Regierungsbericht – Staatsunternehmen vor dem Konkurs bewahren, Peking vor Sandstürmen retten, 900 Millionen armen Bauern ihre Einkünfte sichern. Und gerade deshalb setzt Zhu auf stärkere Kräfte als sich und seine Partei: „Eine neue technische Revolution und die Tendenz zur Globalisierung [...] bieten uns historisch bedeutsame Chancen zur Beschleunigung unseres Marschtempos.“ Sich auf solche äußeren Einflüsse für die Genesung des Landes zu verlassen, bedeutet für den konservativen Parteiflügel natürlich Verrat. Wird er sich bis zum Parteitag zu wehren wissen? „Die Reform befindet sich in einer kritischen Etappe“, stellt Zhu fest. Aber das sagt er jedes Jahr.

GEORG BLUME