„Das Szenario war vorbereitet“

Der Schriftsteller Andrej Kurkow hält die Ermordung des Journalisten Gongadse für einen Coup des ukrainischen Geheimdienstes. Das Ziel der Aktion war, die Führung zu stürzen

taz: Bedeutet der Gongadse-Skandal Kutschmas Ende?

Andrej Kurkow: Wenn Kutschma hätte abtreten wollen, hätte er das gleich zu Beginn getan. Er ist geblieben, und das bedeutet, dass er bis zum Schluss um die Macht kämpfen wird. Überdies gibt es in der politischen Tradition der Ukraine keinen Begriff von Rücktritt. Hier ist noch niemand freiwillig zurückgetreten, weder wegen juristischer Beweise für eine Straftat noch wegen politischen Drucks.

In einem Interview haben Sie gesagt, der Fall Gongadse liefe nach einem vorherbestimmten Szenario, dessen Ende wir noch nicht kennen. Was heißt das?

Das Szenario im Fall Gongadse war von Anfang an vorbereitet. Die Drahtzieher vermute ich in den Reihen aktiver oder ehemaliger Mitarbeiter des ukrainischen Geheimdienstes, die von ihren russischen Kollegen unterstützt worden sein könnten. Am Anfang wurde Kutschmas Aufmerksamkeit auf Gongadses Artikel gelenkt, um bei ihm eine negative Reaktion hervorzurufen, das alles wurde dann aufgezeichnet. Danach wurde Gongadse ermordet. Die Hoffnung war, so eine Periode der Destabilisierung einzuleiten, während der man versuchen könnte, die Führung auszuwechseln. Die Szenaristen hatten zwei Pläne. Entweder die Sache bis zum neuen Jahr über die Bühne zu bringen oder bis zur Sommerpause, Ende Mai. Jetzt wissen die Autoren nicht, was sie mit dem Sicherheitsoffizier Mykola Melnischenko tun sollen (der die Bänder aufgenommen hat, d. Red.). Er hat seine Rolle gespielt, doch die Situation hat sich nicht geändert. Damit sich etwas bewegt, müsste es eine starke Opposition geben. Daran glaube ich nicht.

Hat die Opposition überhaupt gemeinsame Ziele?

Nein, im Inneren tobt ein Kampf zwischen den Chefs der Fraktionen. Das Ganze ist ein Kuhhandel, wer was bekommt, wenn Kutschma geht oder bleibt.

Welche Strategie verfolgen jetzt die Kommunisten?

Ihre Entwicklung ist schwierig vorauszusagen. Klar aber ist, dass sie durch den Wahlsieg der Kommunisten in Moldawien Auftrieb bekommen haben. Sie glauben, dass sie jetzt vielleicht auch hier an die Macht kommen. So haben KP-Chef Simonenko und seine Leute Kutschma verlassen und sind jetzt gegen ihn und Premierminister Juschenko.

Die Proteste dauern schon länger an, als viele erwartet haben. Was kann man angesichts dessen über den Zustand der Zivilgesellschaft sagen?

Dieser Skandal hat der Ukraine sehr geholfen. Und auch den normalen Menschen hier, um sich darüber klar zu werden, in welchem Land sie leben. Dass die Menschen etwas aktiver geworden sind, ist ebenfalls ein positives Moment. Denn die Ukraine zeichnet sich normalerweise durch eine völlige politische Passivität der Bevölkerung aus.

Zwar finden die Ereignisse in der internationalen Presse viel Resonanz, die Reaktionen der westlichen Regierungen sind jedoch eher verhalten.

Der Westen hält sich mit Druck zurück, weil das Kutschma in die Arme Russlands treiben würde. Sollte Juschenko jedoch abgesägt werden, würde die Kritik stärker ausfallen. Dabei schwingt die Hoffnung mit, dass der Reformkurs fortgesetzt wird. Und noch eins: Allein den Kreditgebern des Pariser Clubs schuldet die Ukraine rund eine Milliarde US-Dollar.

Der Held eines Ihrer Romane ist der Pinguin Mischa. Was würde er zu alldem sagen?

Er hätte große Angst, dass man ihn wegen der Ereignisse nicht in die Antarktis schickt, weil alle Expeditionen abgesagt werden mussten. Denn er wartet darauf, in seine historische Heimat zurückzukehren.

Interview: BARBARA OERTEL