„Vier Jahre Entäußerung“

Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Andreas Nachama, hat ein Buch über „Jüdisches aus Berlin“ geschrieben. Vieles war schon zu lesen. Aber das Werk überzeugt, wo es Privates schildert

von PHILIPP GESSLER

Andreas Nachama ist etwas Besonderes. Nicht nur, dass er der Vorsitzende der mit etwa 12.000 Mitgliedern größten Jüdischen Gemeinde der Bundesrepublik ist. Er ist zugleich der Chef einer „Einheitsgemeinde“, die ihrem Namen gerecht wird: Nur in Berlin sind tatsächlich die Jüdinnen und Juden der großen Glaubensrichtungen des Judentums, ob orthodox, ob liberal, in einer Gemeinde vereint. Sie ertragen und befruchten sich gegenseitig, anstatt, wie sonst fast überall auf der Welt und schon beinahe traditionell, eigene Gemeinden zu gründen, die oft nicht so viel miteinander zu tun haben. Und dass in Berlin immer noch die Einheit funktioniert, daran hat auch Nachama Anteil. Doch wie schafft er das? Wie ist das, im „Land der Täter“ eine der wenigen prominenten Führungsfiguren des Judentums zu sein? Und was ist das für ein Leben, angefeindet von versteckten und offenen Antisemiten zwar, aber immerhin im Zentrum der Renaissance des jüdischen Lebens in Deutschland?

Diese Fragen stellen sich, wenn man Nachamas neues Buch in den Händen hält, eines, das vor allem seine Erfahrungen in den vergangenen Jahren als Gemeindevorsitzende zum Thema hat: „Erneuere unsere Tage“ heißt es, einen Vers aus den Klageliedern aufgreifend. „Jüdisches aus Berlin“ will das Werk schildern, wie der Untertitel sagt – etwas beliebig erscheint das, und das Misstrauen wird noch stärker, wenn man schnell merkt, dass die meisten der 72 Texte des 267-Seiten-Bandes schon einmal so oder so ähnlich andernorts erschienen sind.

Das hat zur Folge, dass in manchen Kapiteln die gleichen Textbausteine oder Zitate zu finden sind, die schon ein paar Dutzend Seiten zuvor zu lesen waren. Dazu kommen noch solche wenig reizvollen Hauptkapitel-Überschriften wie „Glauben und Geschichte“, „Gegenwart und Zukunft“, „Gedenkreden“, „Nachrufe und Begegnungen“, „Tagträume und Tagebucheintragungen“.

Kann das Buch also mehr sein als bloß die gebundene Form alter Texte von Andreas Nachama, vereint, da sie halt noch im Computer waren und bald die Gemeindewahlen anstehen, bei denen der Autor wieder kandidiert? Ja, es ist mehr. Das Buch ist trotz einiger Schwächen sogar meist ein spannende Lektüre, was sich gleich im Vorwort andeutet.

Denn hier schlägt Nachama einen Ton an, der bitter ist und so gar nicht nach Funktionärsdeutsch klingt: Er nennt die Zeit als Gemeindevorsitzender „vier Jahre der Entäußerung“, schimpft über „rechtsradikale Schläger“, ärgert sich über schlecht recherchierte Artikel zum Innenleben jüdischer Gemeinden und beklagt die „Einschränkung des Lebens“ durch die Leibwächter, die er braucht: „Alles ordnet sich ein in die Logistik eines Personenschutzes“ – und wie ein Stoßseufzer, fügt Nachama hinzu: „Erneuere unsere Tage.“

Inhaltlich bedeutender jedoch ist eine der Hauptforderungen Nachamas, die wie eine Grundmelodie in diesem Band immer wieder erklingt: Das Judentum in Deutschland müsse um seiner Zukunft willen den Reichtum seiner Religion wiederentdecken oder zumindest stärker pflegen. „Dort, wo das scheinbare Gedenken an die Opfer jüdisches Leben ersetzt, haben selbst fern von Berlin und Europa die Nationalsozialisten noch einen späten Sieg errungen.“ Die „spirituelle Dimension des Judentums“ sei in den 50er-, 60er-Jahren verloren gegangen, klagt Nachama. Die jüdische Spiritualität sei wiederzubeleben. Und so ist es logisch, dass religiös-theologische Texte den Auftakt und das Ende des Buches bilden – Nachama ist Rabbiner. Der Band ist auch Produkt seiner Frömmigkeit.

Diese Offenheit fasziniert. Ebenso wie die Einblicke, die Nachama in sein privates Leben gibt. In seinen Erinnerungen an andere Menschen hat das Werk Kraft. Fast rührend sind die Schilderungen des Verhältnisses zu seinem Vater Estrongo Nachama, des berühmten Oberkantors der Gemeinde, von Freunden „Eto“ genannt. Ihm ist das Buch gewidmet, und immer wieder erinnert sich sein Sohn an ihn – Estrongos letzte Tage beschreibt Nachama mit ergreifenden Worten. Hier findet sich denn auch der schönste Satz des Buches, eine Sentenz mit hohem Anspruch: „Zwar kann ich nicht singen, aber der Gemeinde dienen, die Menschen lieben, das habe ich von Eto gelernt.“ Andreas Nachama zeigt in diesem Buch viel von sich selbst.

Andreas Nachama: „Erneuere unsere Tage. Jüdisches aus Berlin“. Berlin 2001 (Philo), 267 Seiten, 39,80 DM. Nachama stellt das Buch am Sonntag um 11 Uhr im Renaissance-Theater, Knesebeckstr. 100 vor.