Die alte Richterin und ihr Eigensinn

Sie handelte aus unabhängigem Rechtsempfinden: Mit ihrem Spruch gefährdet Shirley Kram die mühsam ausgehandelte Einigung zwischen den USA und Deutschland, zwischen Opferanwälten und deutscher Wirtschaft

WASHINGTON taz ■ Shirley Kram ist seit einem halben Jahrhundert im Rechtsgeschäft. Die 78-jährige Juristin hat einen eigensinnigen Kopf und einen beißenden Stil. Für dumm verkaufen lässt sich Shirley Kram nicht – selbst wenn das Image von Weltunternehmen, die Einkünfte prominenter Anwälte, die Beziehungen zwischen zwei Nationen und ein bisschen Gerechtigkeit für hunderttausende NS-Zwangsarbeiter auf dem Spiel stehen.

Die Richterin am Bundesgericht Manhattan Süd gehört zur selben Generation wie die ehemaligen Zwangsarbeiter, deren Sammelklagen die Entschädigungsverhandlungen mit der deutschen Wirtschaft ins Rollen brachten. Bevor sie Richterin wurde, arbeitete sie jahrelang als Armenanwältin in Harlem. Der republikanische Präsident Ronald Reagan berief sie 1983 ans Bundesgericht. Sie dankte es ihm vier Jahre später mit ihrer Unterschrift unter eine Unterstützungserklärung für seinen Verfassungsgerichtskandidaten Robert Bork, der letztlich wegen seiner rechtskonservativen Ansichten scheiterte.

Am Bundesgericht bekam Kram einiges zu sehen und vieles zu schlucken. 1984 billigte sie im Fall des Steuerflüchtlings Marc Rich, der kürzlich vom scheidenden Präsidenten Bill Clinton begnadigt wurde, eine außergerichtliche Einigung, die Richs Firma wegen Steuerhinterziehung eine Rekordstrafe von 200 Millionen Dollar kostete. 1988 wurde ihr die zweifelhafte Ehre zuteil, zur Richterin mit den meisten in zweiter Instanz kassierten Urteilen des Bezirks ausgerufen zu werden. Ihre Weigerung, die Sammelklagen gegen die deutschen Banken abzuweisen, begründete Kram in einem scharf formulierten Dokument, das aus ihrer Kritik an der Einigung zwischen den Opferanwälten und der deutschen Wirtschaft keinen Hehl macht. Sie will verhindern, dass die ehemaligen Zwangsarbeiter den Kürzeren ziehen, wenn sie im Vertrauen auf die Zusagen der Wirtschaft ihren letzten Hebel aus der Hand geben.

Kram stützte ihre Ablehnung überdies auf die Rechte einer Klägergruppe, der sie sich besonders verantwortlich fühlt. Im Januar 2000 hatte sie einen Vergleich zwischen NS-Opfern und österreichischen Banken gebilligt, der die Forderungen an die deutschen Banken verwies. Auch diese Ansprüche seien durch die Vereinbarung mit der deutschen Wirtschaft gefährdet. Dies sei ein „zusätzlicher und unabhängiger“ Grund dafür, die Abweisung der Sammelklagen abzulehnen.

Unbeeindruckt zeigte sich Kram von den zusätzlichen Argumenten, welche ihr die Anwälte in den vergangenen Wochen geliefert hatten. In einer Fußnote bemängelte sie, die deutschen Unternehmen müssten keine ernsthaften Konsequenzen fürchten, falls sie die versprochene Summe nicht aufbrächten. Sobald sie nachgebe, werde die US-Regierung jeder Sammelklage unter Verweis auf die Staatsraison entgegentreten.

Unter den Beteiligten der mühselig erkämpften Zwangsarbeiter-Einigung machte sich Kram mit ihrem Bescheid keine Freunde. Es müsse verhindert werden, dass eine „richterliche Laune“ auf dem Rücken der Opfer ausgetragen werde, sagte Elan Steinberg, der Sprecher des Jüdischen Weltkongresses in New York. Für ihn gibt es nur eine Lösung, um die Blockade zu durchbrechen: Die Auszahlungen an die Überlebenden müssen beginnen, und zwar sofort. Bei Kram dürfen die Anwälte jedenfalls erst wieder vorstellig werden, wenn die Stiftungkasse gefüllt ist – und die Gruppe, die ursprünglich gegen österreichische Banken klagte, berücksichtigt wird. ELLY JUNGHANS