Kein salomonisches Urteil

Schutz für Ansprüche von Opfern – ohne taktische Rücksicht. Eine US-Richterin will von deutschen Firmen rasch Geld erzwingen

von NICOLE MASCHLER

Als ob er es geahnt hätte: Am Mittwochnachmittag gab Kanzler Gerhard Schröder bekannt, die Entschädigung ehemaliger NS-Zwangsarbeiter sei jetzt Chefsache. Stunden später war das „worst case“-Szenario eingetreten: Die US-Richterin Shirley Kram weigerte sich, die letzte große Sammelklage gegen deutsche Banken abzuweisen. Nur dies hätte die von der deutschen Wirtschaft geforderten und in der Übereinkunft zur Entschädigung vereinbarte Rechtssicherheit hergestellt. Und erst dann können laut Gesetz die Zahlungen an die Opfer beginnen.

Die Situation könnte verfahrener nicht sein. Die Stiftungsinitiative der Wirtschaft will ihren Anteil am Fonds nicht zahlen, solange vor US-Gerichten noch Klagen von Zwangsarbeitern anhängig sind. Kram wiederum weigert sich, die Sammelklagen abzuweisen – weil die Industrie ihren Anteil nicht beisammen hat. An den vereinbarten 5 Millarden Mark fehlen noch 1,4 Millarden.

Von einer „moralischen Katastrophe“ sprach gestern der Grünen-Politiker Volker Beck, Mitglied im Kuratorium der Bundesstiftung. Im Gegensatz zu Kram hatten andere Richter in New York und New Jersey die beiden Sammelklagen gegen Industrieunternehmen und Versicherungen schon vor Monaten ohne Zögern zurückgewiesen. Derweil warten rund eine Million Anspruchsberechtigte vor allem in Osteuropa auf Geld.

Mit ihrem Urteil wollte Richterin Kram die Wirtschaft an den Pranger stellen. Doch nun gerät auch die Bundesregierung unter Druck – hat doch der Kanzler angekündigt, die 16 Gründungsfirmen der Stiftungsinitiative persönlich ins Gebet zu nehmen. Die Firmen müssten ihren Beitrag aufstocken, fordern Vertreter der Bundestagsfraktionen unisono. Doch die weigern sich.

BASF sehe keine Veranlassung, über die bereits gezahlten 100 Millionen Mark hinauszugehen, stellte das Unternehmen bereits am Wochenende klar. Ähnlich argumentierten DaimlerChrysler und die Bayer AG.

Schon einmal hatte Schröder die Entschädigung zur Chefsache erklärt. Als sich die Regierung im Frühjahr 1999 erstmals in die Entschädigungsverhandlungen einschaltete, war es am Ende der Bund, der fünf Milliarden Mark aus dem Staatssäckel zusagte. Zur Freude der Wirtschaft.

Seither haben die Entschädigungsverhandlungen immer wieder den Eindruck vermittelt, als überließe die Bundesregierung den Topmanagern das Feld: Diese waren es, die immer wieder lautstark nach Rechtssicherheit rief. Diese weigerten sich, zumindest einen Teil des Geldes vorab zu zahlen. Wieder griff der Kanzler ein. Am Ende stand das deutsch-amerikanische Regierungsabkommen, in dem die US-Seite zusagte, künftig die Abweisung der Klagen in einem statement of interest zu empfehlen. Wie die US-Seite sieht auch die Bundesregierung Rechtssicherheit gegeben, wenn alle Klagen, die zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Stiftungsgesetzes anhängig waren, abgewiesen sind. Krams Entscheidung untergräbt die Regierungsvereinbarung. Schon fordert Lothar Evers vom „Bundesverband Information und Beratung NS-Verfolgter“, die Entschädigung von der Bankenfrage abzukoppeln. Schließlich sind die Klagen gegen deutsche Industrieunternehmen längst abgewiesen. Für einen solchen Weg müsste jedoch das Stiftungsgesetz neu gefasst werden. Das würde die Auszahlung erneut um Monate herauszögern.

Das weiß auch die Stiftungsinitiative. Sie setzt nun offenbar darauf, dass der Bund ein weiteres Mal in die Bresche springt. Nur so ist der Vorstoß des Verhandlungsführers der Wirtschaft, DaimlerChrysler-Finanzvorstand Manfred Gentz, zu erklären: Die Entschädigung der Opfer, schrieb er vor wenigen Tagen in einem Brief an den Regierungsbeauftragten Otto Graf Lambsdorff, könne beginnen – aber bitte nur aus Steuermitteln. Die Aufforderung von Grünen-Politiker Beck und anderen, doch zumindest die bereits gesammelten 3,6 Milliarden Mark auf das Konto der Bundesstiftung zu überweisen, hat die Stiftungsinitiative dagegen ignoriert. Sie zieht sich auf den Gesetzestext zurück. Und hofft derweil, die Bedingungen wie in der Vergangenheit durch die Hintertür zu diktieren.