Die Angst kam erst viel später

Erdbeben wie jene Anfang des Jahres in El Salvador sind viel mehr als Tote, Verletzte und ein Wert auf der Richterskala. Sie sind eine extreme sinnliche Erfahrung, die einem für immer in den Knochen stecken bleibt

von TONI KEPPELER

In der Nachrichtensprache gleicht ein Erdbeben dem anderen, und alle lassen sich auf wenige Daten reduzieren. Die Agenturen melden erst ein „schweres Erdbeben“, das ein Land erschüttert hat. Dann werden die Stärke auf der „nach oben offenen Richterskala“, der Ort des Epizentrums, die Schäden, die vermutliche Zahl der Toten nachgeliefert.

Am Tag danach: „Die Zahl der Toten steigt stündlich.“ Und dann: „Kaum mehr Hoffnung auf Bergung von Überlebenden.“ Schließlich: „Im Erdbebengebiet droht Seuchengefahr.“

Nach dem ersten Erdbeben in El Salvador war das so. Und ebenso nach dem Beben in Indien. Nach dem zweiten salvadorianischen Beben konnten die Korrespondenten die Meldungen vom ersten herauskramen. Ein paar Zahlen ausgetauscht, ein paar Orte, fertig. Kein Leser kann nach so einer Nachricht ahnen, was das Wort „Erdbeben“ tatsächlich bedeutet. Erdbeben – das ist eine extreme sinnliche Erfahrung. Erdbeben bedeutet völlige Hilflosigkeit. Der feste Grund unter den Füßen geht verloren.

Kurz vor Mittag, 13. Januar. Ich sitze in der honduranischen Hauptstadt Tegucigalpa in einem Café. Plötzlich schwankt der Boden. Sanft, in langen Wellen. Die Männer am Nachbartisch werden nervös. Ich nicht. Ich lebe seit Jahren in San Salvador. Dort kommt so etwas alle paar Wochen vor. In Honduras sind solche Erschütterungen selten.

Am nächsten Morgen entnehme ich den Zeitungen, dass das, was man im Café als sanftes Schwanken spürte, in El Salvador eine Katastrophe war. Der Flughafen dort ist wegen Schäden gesperrt. Also bleibt mir für den Rückweg nur der Landweg. Acht Stunden mit dem Bus.

Nach der Grenze der forschende Blick nach draußen. Wann kommt die erste Ruine? Fast eine Stunde während der Fahrt ist nichts zu sehen. Aufatmen. Doch nicht so schlimm. Aber dann die Küstenebene. In jedem Dorf sind ganze Straßenzüge eingestürzt. Der Bus fährt im Zickzack durch die Trümmer.

Ob mein Haus noch steht? Ja. Von außen ist nichts zu erkennen. Alles in Ordnung. Fast. Drinnen ist Geschirr aus den Regalen gekippt. Weinflaschen sind zerschmettert. Der Kühlschrank, ein chinesisches Metallmonster von anderthalb Meter Höhe, ist durch die Küche gewandert. Das gibt eine Ahnung von den Kräften, die da wirkten.

Das Erdbeben vom 13. Februar, morgens kurz vor halb neun. Ich sitze mit einem Cappuccino und den Zeitungen auf der Terrasse. Ich erinnere mich nicht mehr, was zuerst kam, der Lärm oder das Zittern. Ich hatte den Eindruck, beides kam frontal rasend auf mich zu. Ein Lärm, wie ihn eine Panzerkolonne auf einer Brücke macht. Ein Zittern, das den Körper durchschüttelt. Drei Schritte, und ich bin im Garten. Das kleine Rasenstück wirft Wellen.

Habe ich noch Grund unter den Füßen oder schon nicht mehr? Der Dachfirst des zweigeschossigen Hauses schwankt bestimmt einen halben Meter hin und her. Ich warte darauf, dass das Haus einstürzt. Aber es bleibt stehen. Es ist erstaunlich, was Häuser aushalten.

Sofort war mir klar: Das war ein neues Erdbeben. Ich habe es wie ein Naturspektakel erlebt, als neugieriger Zuschauer. Ich wusste, ich lebe in einem erdbebengefährdeten Gebiet. Irgendwann wird es kommen. Jetzt war es gekommen. Hinterher konnte ich kaum glauben, dass es nur zwanzig Sekunden gedauert hatte, es kam mir viel länger vor. Aber erschreckt hat es mich nicht. Die Verunsicherung und die Angst kamen erst später.

Das Epizentrum dieses Bebens lag in der Mitte von El Salvador. Zeitungsleser wissen, was ein Epizentrum ist: ein Punkt auf der Landkarte, drum herum konzentrische Kreise. Auf der Karte, die nach dem Beben vom 13. Februar in den Zeitungen abgedruckt wurde, lag der Großraum von San Salvador, wo ich wohne, in einem der äußeren Kreise.

Dort ist nicht viel passiert. Knapp achthundert Häuser sind eingefallen. Wenige Tote. Die meisten starben am Schrecken.

Nachdem die ersten Meldungen geschrieben waren, fuhr ich dorthin, wo die Kreise auf der Karte enger wurden. Zuerst nach San Vicente, Hauptstadt der am stärksten betroffenen Provinz. Sie hatte einmal ein schmuckes koloniales Zentrum: um den Hauptplatz eine weiß gestrichene Kirche mit zwei Türmen, das wuchtige, mit Beton restaurierte Rathaus, ein Kasino aus filigraner Holzkonstruktion, fast ein bisschen karibisch.

Von der Kirche stehen nur noch die vordere Fassade und einer der beiden Türme. Das Kasino ist völlig in sich zusammengebrochen. Es taugt allenfalls noch als Brennholz. Tiefe Risse ziehen sich kreuz und quer durch die Fassade des Rathauses. Der Balkon, von dem herab schon manch große Rede gehalten wurde, ist abgebrochen.

Das Gelände ist abgesperrt. Einsturzgefahr. In den Straßen, die vom Hauptplatz wegführen, sind manche Häuser heil geblieben und ganz offensichtlich auch noch bewohnt. Andere haben nur den Verputz verloren, wieder andere weisen große Löcher in der Wand auf. Man kann von der Straße ins Wohnzimmer sehen. Die Familienfotos hängen schief an der Wand. Und wieder andere Häuser sind nur noch Ruinen. Mitten zwischen zwei solchen ein Supermarkt. Er hat geöffnet.

Von San Vicente führt eine heruntergekommene Schotterstraße über Tepetitan nach Verapaz. Das sind vielleicht fünfzehn Kilometer. Aber man ist fast eine Stunde unterwegs. Tepetitan bietet das, was man gemeinhin ein „Bild der Verwüstung“ nennt: kein Haus ohne Schaden. Mindestens die Dachziegel sind beim Beben heruntergekommen. Von anderen Häusern stehen nur noch eine oder zwei Außenmauern. Oder nur noch eine Tür. Türen bleiben häufig als Letztes stehen.

Ich erinnere mich an den Rat, sich bei einem Erdbeben unter einen Türstock zu stellen. Noch acht Kilometer weiter, und wir sind in Verapaz. Zweitausend Häuser, bis auf zwanzig von ihnen ein einziger Haufen aus Steinen. Es war einmal ein typisches zentralamerikanisches Dorf: kleine Häuschen aus Lehmsteinen mit ausladenden, von Säulen gestützten Ziegeldächern. Man konnte im Schaukelstuhl vor dem Haus im Schatten sitzen. Oder in der Hängematte liegen.

In der vielleicht fünfhundert Meter langen Straße, die vom Dorfeingang zum Hauptplatz führt, ist kein Haus mehr höher als einen Meter. Unmöglich, sich vorzustellen, wie das Dorf einmal aussah. Ich weiß, dass von der Hauptstraße Seitenstraßen abführten. Aber sie sind nicht mehr zu finden. Dort, wo die Ecke einer Wandtafel aus dem Boden ragt, war wohl einmal die Schule. Wir sind am Punkt. Im Epizentrum.

Beben und Nachbeben: Nach dem großen Erdbeben vom 13. Januar wurden in El Salvador mehr als viertausend weitere Beben registriert. Die einheimischen Geologen fechten einen schon fast scholastischen, ja fruchtlosen Streit darüber aus, welches davon ein Nachbeben und welches ein eigenständiges Erdbeben war. Für Nichtexperten spielt das keine Rolle. Es zittert und wackelt. Mehr oder weniger.

Die leichtesten Erschütterungen sind kaum zu spüren. Sie sind wie die Andeutung eines Schwindelanfalls nach einer durchzechten Nacht. Der Gleichgewichtssinn kommt kurz durcheinander, und hinterher ist man sich nicht ganz sicher, ob da überhaupt etwas war. Die schweren Beben sind begleitet vom Lärm der Panzerkolonne. Das Haus schwankt so stark, dass man sich festhalten muss.

Die meisten dieser Beben haben mich am Schreibtisch erwischt. Ich klammere mich an der Tischplatte fest und starre aus dem Fenster. Ich sehe, wie alles wackelt, und denke: Du musst etwas tun. Du musst etwas tun . . . Aber ich sitze und starre. Bis alles vorbei ist. Erst dann gehe ich hinaus ins Freie. Es könnte ja noch ein Beben kommen. Und oft genug kommt noch eines. Die längste Serie waren fünf in zwanzig Minuten.

Schlimmer ist es in der Nacht. Das Rütteln reißt mich aus dem Schlaf. Oder ist es der Lärm, der mich weckt? Oder das plötzlich ausgeschüttete Adrenalin? Ich sehe nichts. Ich bleibe liegen und warte. Und danach die Frage: Aufstehen oder nicht aufstehen? Die Matratze hinaus in den Garten tragen? Bislang habe ich immer im Haus geschlafen. Mit offenen Türen. Denn Türen verklemmen sich beim Beben. Man will hinaus und kann es nicht.

Danach bellen alle Hunde in der Nachbarschaft. Ich liege im Dunkeln und warte weiter. Kommt ein zweites Beben oder kommt keines mehr? Jedes Knacken im Haus, jede leichte Bewegung treibt den Puls nach oben. War das ein Nachbeben? Oder nur der Wind? Oder spinne ich schon? Alle Nerven sind angespannt. An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Die Nächte, die ich seit dem 13. Januar durchgeschlafen habe, lassen sich an einer Hand abzählen.

Zum Schluss: Um die Mittagszeit des Tags, an dem dieser Text geschrieben wurde, gab es wieder ein Beben. Keines, das mehr als eine Kurzmeldung wert wäre. Wieder saß ich am Schreibtisch im ersten Stock. Als der Lärm und das Schwanken begannen, klammerte ich mich wieder fest und starrte aus dem Fenster. Bestimmt zwanzigmal sagte ich mir: Du musst unter den Schreibtisch, dass dir nichts auf den Kopf fällt. Oder hinaus ins Freie. Aber ich schaffte es wieder nicht. Wieder war ich wie festgenagelt. Mein Herz raste.

Die Anspannung ist auch in der Nacht noch nicht gewichen. Es soll endlich aufhören.

TONI KEPPELER, 44, taz-Zentralamerikakorrespondent, lebt seit sieben Jahren in El Salvador