Lebensnotwendige Geschichte

Die Suche nach sich selbst hat L.Z. zehn Jahre und viel Kraft gekostet. Jetzt weiß sie warum, aber der Schmerz bleibt  ■ Von Sandra Wilsdorf

Lange haben sie geschwiegen, die Fachleute in Sachen Adoption. Nun melden sie sich zu Wort: Adoptierte, Adoptiveltern, abgebende Mütter, Therapeuten und Mitarbeiter entsprechender Beratungsstellen sammeln Unterschriften gegen Babyklappen und anonyme Geburt. Schon etwa 200 Adoptions-Betroffene weisen auf die „Schattenseiten der vollständigen und dauerhaften Anonymität“ hin. Eine von ihnen ist Dr. L.Z., die fünf war, als sie erfuhr, dass Mama und Papa ihre zweiten Eltern sind.

Wenn sie über die Babyklappe spricht, klingt das nach Recycling: „Das hat so etwas von Entsorgung und Wiederverwertung, weil nach Babys eine Nachfrage besteht.“ Die Adoptiveltern bekämen ein Kind ohne Geschichte, ohne Konkurrenz, aber dafür mit dem Drama, verlassen worden zu sein. „Dass Gesellschaft so etwas absegnet, ist ein Skandal“, sagt sie. Sie redet über die Verantwortungslosigkeit, die in unserer Gesellschaft Freiheit heißt und ist ohnmächtig wütend darüber, dass die Babyklappe nicht nur geduldet, sondern von allen Seiten gelobt wird. „Es gibt ein Recht auf Abstammung.“

Sie selber war zehn Jahre lang auf der Suche nach sich selbst. Denn ohne Geschichte fühlte sie sich, als würde etwas fehlen, „als Mensch zweiter Klasse“. Als Mensch ohne Wurzeln. „Zu wissen, woher man kommt, ist ein Grundgefühl, so wichtig wie atmen und essen.“ Mit Mitte 20 wollte sie wissen, wer ihre Mutter ist und warum sie sie weggeben hat. Die Frage hat sie sich schon viel früher gestellt, aber vielleicht hat die Kraft für die Antwort gefehlt. „Ich habe heimlich gesucht, das machen die meisten Adoptierten, denn eigentlich will man ja loyal gegenüber den Adoptiveltern sein.“

Sie wusste den Namen ihrer Mutter, aber jetzt will sie sie sehen und sprechen, „man hat ja während der Schwangerschaft mit der Mutter gelebt, da entsteht doch eine Beziehung“. Das Gefühl wegegeben worden zu sein, nennt die inzwischen etwa 35-Jährige, die praktische Ärztin und Homöopathin ist, eine „absolute Kränkung“. Sie beschreibt die Suche in Gesichtern. „Man geht durch die Straßen und fragt sich bei jeder Frau im passenden Alter, ob das vielleicht die eigene Mutter ist.“ Viele adoptierte Frauen hätten bei jeder Männer-Bekanntschaft Angst, sich mit ihrem Bruder einzulassen.

L.Z. macht Therapien, weiß nicht wohin mit ihrer Trauer. „Wenn man seine Mutter durch einen Schicksalschlag verliert, darf man trauern, mir wurde nur gesagt, ich solle doch froh sein, nicht abgetrieben worden zu sein.“ Und eigentlich war sie den Adoptiveltern ja auch dankbar. „Das ist unglaublich anstrengend.“

Eines Tages kommt ein Brief von der Behörde: „Hiermit erhalten Sie Geburts- und Sterbeurkunde, wir bitten Sie um die Überweisung von 12,70 Mark.“ Ein Schock: Die Mutter war längst tot, war schon mit 39 Jahren gestorben. Aber da war auch Wut, die keinen Adressaten hatte und da waren all die ungefragten Fragen. Die Tochter unterbricht die Suche nach ihrer Vergangenheit und macht irgendwann doch weiter. Vor einigen Jahren hat sie schließlich ihren Vater getroffen. Nun weiß sie, warum sie mit diesem Schatten leben muss. Sie will es aber nicht in einer Zeitung lesen, es hat mit inzwischen überholten Moralvorstellungen zu tun. „Im Kopf kann ich jetzt die Umstände begreifen, aber ein Bedauern darüber, dass sie es getan hat, kann ich ihr nicht absprechen“, sagt sie und meint eigentlich: „Emotional ist es immer noch unfassbar.“

Sie glaubt nicht, dass die Babyklappe Leben rettet, weil die Frauen ihre Kinder sonst in den Container werfen würden. „Das ist doch absurd“, sagt sie. Die Frauen wären so weit weg von sich, dass sie schon deshalb nicht zur Klappe gehen würden. „Viele Frauen setzen ihr Kind doch so aus, dass es gefunden wird.“ Das habe immerhin noch einen Verzweiflungsaspekt, aber dass Gesellschaft es auch noch legitimiert, kann sie nicht fassen. Denn Herkunft gehöre zur Identität, ganze Fernsehserien basierten darauf. „Weggegeben worden zu sein, ist nicht gerade ein Prädikat.“ Viele Adoptierte zögen sich in die Isolation zurück. Die Zahl psychiatrischer Erkrankungen sei unter A-doptierten deutlich erhöht. L.Z. plädiert dafür, dass Adoptiveltern und Kinder ihr Leid teilen: „Die Kinderlosigkeit und das Verlassenwerden, die eigene Geschichte und die der Eltern haben doch einen Schnittpunkt.“

Inzwischen hat sie ihren Frieden gemacht, „aber nur, weil ich die Geschichte kenne“.