Die innere Provinz

Wonnen des Kleinbürgers: In einem 1972 erschienenen Bildband über die „Hauptstadt der DDR“ gleicht Berlin einer westdeutschen Geisterlandschaft

von ULRICH PELTZER

Erschienen ist der großformatige Bildband in fünfter, überarbeiteter Auflage 1972 in der Edition Leipzig, er heißt schlicht: Berlin Hauptstadt der DDR.

Neben einem einleitenden, die Stadtgeschichte als unablässigen Kampf der Bewohner um Demokratie und Freiheit sich zurechtbiegenden Text, der die Epoche des Nationalsozialismus allein mit folgenden Worten abhandelt: Friedenssehnsucht und Fortschrittswille des einfachen Volkes wurden noch einmal überrollt von Nationalismus und Faschismus, finden sich auf 175 Seiten spärlich beschriftete, in der Hauptsache schwarz-weiße Fotografien, die schon beim ersten Durchblättern eine gewisse Irritation erzeugen, so unbeholfen schnappschusshaft wirken die meisten, ziemlich weit von jeder Komposition entfernt, um nicht zu sagen dilettantisch. Lediglich einige wenige Aufnahmen neu gebauter architektonischer Ensembles – die Hochhäuser auf der Fischerinsel oder um den Fernsehturm am Alexanderplatz – lassen in ihrer beinahe menschenleeren Perspektive von weit oben etwas wie Stilwillen erkennen, mag der auch in seiner Planhaftigkeit nirgendwo übers rein Dokumentarische hinauskommen.

Der überwiegende Rest zeigt Alltagsszenen, die weder gestellt noch von irgendeiner dem Betrachter zu vermittelnden Bedeutung sind, Passanten gehen an einer Ampel über die Straße, zwei Frauen sitzen lesend in einer Bibliothek, ein Auto fährt mit verwischenden Konturen an der ungarischen Botschaft vorbei, einem gesichtslosen Bürogebäude, das nur durch eine einsilbige Bildunterschrift als das, was es ist, kenntlich gemacht wird; und immer wieder Unschärfen und abgeschnittene Körperteile, etwa das Gesicht eines im Vordergrund spielenden Kindes, das der untere Bildrand einfach zu zwei Dritteln wegrasiert.

Wüsste man nicht, dass das Thema des Buches Berlin ist, und sähe man nicht gelegentlich ein in der Stadt verortbares Gebäude oder ausnahmsweise auch mal den konventionellen Blick des beflissenen Amateurs auf Segelboote vor dem Müggelturm, könnte man das Ganze für eine unsystematische Kompilation zufällig gefundenen Materials halten, zusammengezimmert einzig durch Kommentare wie: Dicht bewohnt sind die Straßen zu beiden Seiten der Schönhauser Allee, und Geschäft reiht sich an Geschäft.

Mitunter entdeckt man auf Flohmärkten in anonymen Schuhkartons ähnliche Versuche mit der Kamera, denen kaum mehr abzulesen ist, warum gerade in diesem Moment fotografiert wurde, ausgerechnet diese Szene, ohne jeden repräsentativen oder artistischen Wert. Was an solchem Unvermögen verwundert, ist die Tatsache, dass über Anfängerstatus nicht hinaus reichende Bilder ihren Weg durch die Instanzen der Zensur zwischen zwei Buchdeckel fanden, als hätte es in der DDR in den 60er-Jahren keine Fotografen gegeben, die zumindest ihr Handwerk beherrschen.

Von haarsträubender Banalität und nicht selten abstruser Kadrierung, lässt sich nur spekulieren, welche Strategien die Herausgeber verfolgten, als sie ihre Galerie hauptstädtischen Tempos und gern besuchter Attraktionen in genau dieser Kombination veröffentlichten, unterstellt man ihnen nicht totale Ignoranz dem Stoff und seinen Gesetzen gegenüber oder bloß Masochismus. Vielleicht waren es die Wonnen kleinbürgerlicher Gewöhnlichkeit, die sie bei ihrer Auswahl beflügelten, vielleicht wollten sie demonstrieren, dass Berlin sich von Anklam oder Suhl im Grunde gar nicht wirklich unterscheidet, ein ästhetischer Surplus hier also keinesfalls zu erwarten ist; kein als dekadent oder imperialistisch von den zuständigen Gremien zu entschlüsselnder Glamour der Metropole, so wenig wie der Aufschein eines Leben jenseits der lähmenden Trübe der Provinz.

Versetzt man sich von heute aus biografisch in die Zeit vor knapp dreißig Jahren zurück, bleibt die Antwort auf die Frage, ob man an einem Ort wie dem, den die Fotos auf ihre Art ans Licht bringen, existieren kann, immer die gleiche, niemals! Genau deshalb ist man aus der geistfernen Ödnis Westdeutschlands so schnell es ging abgehauen, merkwürdigerweise oft in den anderen Teil der Stadt. Warum man damals fast nie in den Osten fuhr, dürfte klar sein, seiner eigenen Vergangenheit auf Schritt und Tritt zu begegnen, war zu entlarvend.