Galgenhumor im Orchestergraben

Das „H.M.H.-Sinfonieorchester“ ist Deutschlands einziges „Arbeitslosenorchester“. Jetzt steht das ungewöhnliche Ensemble aus Ostberlin vor der Abwicklung – weil 700.000 Mark zum Überleben fehlen. Doch die Initiatoren geben nicht auf, denn die Idee ist einfach zu gut: „Alle finden uns toll“

von CORINNA BUDRAS

Das Gebäude ist eigentlich eine Zumutung. Von außen sieht es aus, als wäre es seit Jahren stillgelegt. Innen schließen die Fenster nicht richtig und es ist feucht. Entlang der Saaldecke hat jemand eine Konstruktion angebracht, die das reinlaufende Regenwasser aufffangen soll. Die Heizungen funktionieren nicht, stattdessen stehen Thermostate zwischen den Geigenkästen herum. Mittendrin sitzen 52 Musiker auf alten, wackligen Stühlen und kümmern sich nicht um den abenteuerlichen Zustand des alten NVA-Plattenbaus in Biesdorf, einem Stadtteil von Marzahn im Nordosten Berlins. Sie spielen das Cellokonzert in h-Moll von Dvořák – immer wieder den dritten Satz. Denn am Wochenende ist Konzert und da will das „H.M.H.-Sinfonieorchester“ – das „einzige Arbeitslosenorchester Deutschlands“ – wieder vor ausverkauftem Hause spielen.

Während der Dirigent Jens Hofereiter seinen Streichern den letzten Schliff gibt – „Das ist alles noch ein bisschen zu geleckt“ –, sitzt Reinhard Heinisch in seinem nicht minder maroden Büro und versucht die Zukunft des Ensembles zu retten. Es fehlen 700.000 Mark, die der „Pressefuzzi“ der eigenwilligen Mannschaft bis Ende März aufgebracht haben muss – sonst ist erstmal Schluss mit der Fiedelei. Der Mann versteht etwas von seinem Job, immerhin hat er jahrelang in der DDR bei einer „großen Illustrierten“ gearbeitet. Im harten Nachwendekampf ging die Fernsehzeitschrift F. F. Dabei den Bach hinunter. Aber bei dieser Arbeit ist wirklich sein ganzes Engagement gefragt.

Die Welt ist aber auch zu ungerecht. „Die Musiker wollen spielen, die Leute wollen uns hören und die Politiker finden uns toll“, seufzt Heinisch theatralisch und lacht im gleichen Atemzug vergnügt auf: „Doch dafür zahlen will niemand!“ Der Mann bewegt sich mit seinem Orchester am Rande des Abgrundes, aber eine richtige Endzeitstimmung will sich bei ihm nicht breit machen. Auch der künstlerische Leiter des Ensembles, Lutz Daberkow, ein agiler Mann mit Glatze, die ihn wie Berlins Kultursenator Stölzl aussehen lässt, ist angesichts des ernsten Themas entschieden zu gut gelaunt. Die beiden sehen eher aus wie zwei Skatbrüder, die bei fiesem Neonlicht noch eine Skatrunde kloppen wollen und nur noch auf einen dritten Mann warten. Einen, der noch einen Trumpf im Ärmel hat und damit die Zeche bezahlen kann.

Vielleicht sind die beiden Berufsoptimisten, vielleicht hält sie auch der türkische Mokka auf Trab, den sie immer trinken. Oder sie haben schon zu lange in den Abgrund geguckt und sich bereits an die schwindelnde Höhe gewöhnt. Vielleicht haben die beiden auch nur einfach nichts mehr zu verlieren. Schließlich ist ihre Mannschaft bereits ein Arbeitslosenorchester – was soll da noch groß passieren? Die Musiker werden aus Mitteln der so genannten Strukturanpassungsmaßnahme (SAM) finanziert und kriegen nur ein paar müde Mark mehr als der gemeine Arbeitslose. Daberkow selbst ist seit Januar schon wieder offiziell arbeitslos und macht die ganze Arbeit jetzt eben ehrenamtlich. Heinisch steht dieses Schicksal unmittelbar bevor. Viel schlimmer kann es also eigentlich nicht mehr kommen. Das einzige „Sozialhilfeempfängerorchester Deutschlands“ wird es schon nicht werden. Außerdem – und das hebt die Stimmung – ist die Idee einfach zu gut, um den Bach runterzugehen. Das finden schließlich alle, denen Reinhard Heinisch von seinem „H.M.H.-Sinfonieorchester“ erzählt. Als „Perle“ und „Leuchtturm“ wurde es schon bezeichnet. Ein Leuchtturm, dem bald das Licht ausgehen könnte, wenn nicht schnell etwas passiert.

„H.M.H“. steht für die Ostberliner Bezirke Hellersdorf, Marzahn und Hohenschönhausen und bezeichnet die Wurzeln dieses Projektes, das es seit April 1999 gibt. Damals hatte die Schließung des Ostberliner Revuetheaters „Metropol“ für Lutz Daberkow den Ausschlag gegeben. Angesichts der vielen arbeitslosen Musiker wollte der frühere Intendant des Theaters Halberstadt in Berlin eine Gegenoffensive starten – mit Hilfe der damaligen Berliner Arbeitssenatorin und heutigen Bundesfamilienministerin Christine Bergmann (SPD), dem Bezirksamt Marzahn und dem Arbeitsamt Berlin Ost. Rund zwei Jahre lang lief die Finanzierung einigermaßen problemlos. Der Bezirk und das Land Berlin teilten sich die Kosten. Angesichts der bedenklichen Lage des Berliner Landeshaushalts will die Arbeitsverwaltung jetzt nur noch 700.000 Mark beisteuern. Nach den restlichen 700.000 Mark muss Heinisch jetzt selbst Ausschau halten.

Wo die hergenommen werden sollen, weiß niemand so genau. Die Geiger sind jedenfalls erst mal damit beschäftigt, sich nach Anweisung ihres Dirigenten „nicht zu sehr auf die Eins zu setzen“. Bei den Celli darf es noch ein bisschen mehr sein. „Das Ganze ist fast ein bisschen aggressiv im Ansatz.“ Zwischendurch kommt ein wenig Unruhe unter den Streichern auf, weil eine Bindung nicht ganz klar ist. Mit ein paar verbindlichen Worten bringt der junge Konzertmeister Andreas Pfaff schnell Ruhe in die musikalische Debatte. Das Ganze also noch einmal: „Bitte schön.“

Im Grunde genommen führt der Begriff „Arbeitslosenorchester“ völlig in die Irre. Bei diesem Wort denkt man unweigerlich an ein Ensemble voller unglücklicher, disziplinloser Figuren, die mehr schlecht als recht versuchen, so etwas wie klassische Musik auf die Bühne zu bringen. Mitnichten. Bei den Musikern des H.M.H.- Sinfonieorchesters handelt es sich ausnahmlos um Profis, die ihre Instrumente richtig gelernt haben und dann Opfer einer regressiven Kulturpolitik wurden. Aus 400 arbeitswilligen Musikern konnte sich Daberkow bei der Zusammenstellung des Orchesters die besten raussuchen. Inzwischen sind sie laut Heinisch zu einem richtig „eingeschworenen Haufen“ geworden.

Dabei könnten deren Hintergründe nicht unterschiedlicher sein: Alt sitzt neben Jung, Ossi neben Wessi neben Ausländer. Die Kontrabassistin Simona Popa zum Beispiel. Sie gehört zu den geheimen Stars des Ensembles und hat auch bereits ein Solokonzert bestritten. Mit ihren 37 Jahren hat die gebürtige Rumänin schon eine Menge hinter sich. Ihren musikalischen Weg pflastern einige Ensembles: Sie spielte an der Neuen Bühne in Senftenberg, im Brandenburgischen Sinfonieorchester, in Cottbus, in Halle, beim Kabarett und als einzige Streicherin in einem Bläserensemble. Fast immer wurden die Orchester aufgelöst, kurz nachdem Simona Popa dazustieß. „Nach mir kam dann immer nichts mehr“, erklärt sie mit einem Anflug von Galgenhumor.

Ganz anders Jürgen Dempewollf. Er ist Geiger und war lange Jahre beim Berliner Rias-Tanzorchester. Danach verschlug es ihn an das Musicalhaus „Theater des Westens“. Inzwischen ist er 57 Jahre und macht sich nichts mehr vor. Er rechnet sich nicht mehr aus, jemals wieder in einem anderen Orchester spielen zu können. „Ich werde eben nicht mehr zum Vorspielen eingeladen.“ Die Zeiten seien vorbei.

Musik und Arbeitslosigkeit sind meist die einzigen Punkte, die die Musiker im H.M.H.-Orchester miteinander verbindet. Doch das reicht aus, um für ein gutes Betriebsklima zu sorgen. Und um die Konzerte im „Theater am Park“ in Marzahn, im Nordosten Berlins, zu füllen. Das gelingt dem Sinfonieorchester nach Angaben von Daberkow mehr als zufrieden stellend. „Bei unserer Operngala im letzten November haben wir die Leute gar nicht mehr aus dem Saal bekommen, so begeistert waren die“, schwärmt er. Auch Heinisch kriegt beim Thema „Operngala“ schon fast auf Kommando eine Gänsehaut: „Es macht einfach Spaß.“ Und eins ist sicher: „Der Bedarf ist da.“

Das H.M.H.-Sinfonieorchester kann auf ein Einzugsgebiet von knapp 500.000 Menschen zurückgreifen. Im Nordosten Berlins war schließlich zu DDR-Zeiten die geistige Elite versammelt, und daran hat sich auch in der Zwischenzeit kaum etwas geändert. Sie bildet jetzt das dankbare Stammpublikum des Ensembles und sorgt für ein volles Haus.

Das sind alles Indizien dafür, dass die Geschichte des H.M.H.-Sinfonieorchesters eigentlich nur gut ausgehen kann – ausgehen muss. Vielleicht erklärt sich daher der ungetrübte Optimismus der beiden Skatbrüder. In Gedanken schreibt der „Pressefuzzi“ Heinisch auch bereits an einem Gastkommentar für die nächste Ausgabe der Bezirkszeitschrift. Geplante Überschrift: „Das muss doch zu machen sein.“

Das „H.M.H. Sinfonieorchester“ spielt heute um 19.30 Uhr in Berlin-Biesdorf, im „Theater am Park“, Frankenholzer Weg 2–4