Bartlebys Rettung

Beim Romanschreiben implodiert man, beim Filmemachen darf man explodieren, sagt Paul Auster. Zu Besuch bei dem Schriftsteller in Brooklyn

von MICHAEL SAUR

Der Zirkus ist in der Stadt. Bunt und laut, lustig und manchmal traurig wie ein frierender Liliputaner mit angepappter Nase ziehen die Schausteller durch die eiskalten Straßen. Eine Ecke weiter ist man plötzlich allein. Schneewasser tropft in Pfützen. Der Frühling hat begonnen. Jetzt weitergehen, die Augen offen halten, sich treiben lassen. Paul Auster finden. Paul Auster schreibt Romane über einsame Seelen, deren Leben weniger durch aktiven Einsatz als durch Zufälle gelenkt werden. Als Paul Auster Anfang dreißig war, begann in seinem Leben alles schief zu gehen. Seine Frau verließ ihn. Sie nahm den Sohn mit. Sein Vater starb. Seine Lebensplanung zerbröselte wie ein Stück Keks in einer sich schließenden Faust. Was ihm blieb, war die Hoffnung auf den Zufall, das Unerwartete.

Die Krise liegt lange zurück, sie ist ziemlich gut ausgegangen, mag man denken, wenn man heute bei Paul Auster im Brooklyner Wohnzimmer sitzt, wo gerade eine aufwendige Küchenrenovierung abgeschlossen wurde und alles in gepflegter Eintracht erstrahlt, und man ist sich nicht sicher, ob der mit Zigarillostumpen volle Aschenbecher auf dem polierten Esstisch, in den Auster pausenlos nachlegt, stilgerecht, Nostalgie oder ein kleiner Rest von Subversion ist.

„1979“, sagt Paul Auster. „Das war, als sich alles in meinem Leben änderte.“ Kein schlechter Satz. Er klingt wie der Anfang einer seiner Romane. „Das war ein verrücktes Jahr“, erinnert er sich. Auster war 32, verheiratet mit Lydia Davis, einer Übersetzerin, sie hatten einen zweijährigen Sohn, Daniel. Es begann eine Zeit der totalen Isolation, des Unglücklichseins. „Mit meiner Arbeit war ich gegen eine Wand geprallt, meine Ehe funktionierte nicht, ich war immer pleite. Ich war am Ende.“ Auster war gefangen in großer Einsamkeit, die Probleme umgaben ihn wie eine dicke Mauer, und er wusste nicht, wie er aus seinem Gefängnis herauskommen konnte. Er flüchtete sich ins Schreiben und erwartete, was man sich normalerweise von einer Flucht erwartet: die Rettung.

Während der nächsten drei Monate brachte Auster die Memoiren seines Vaters, Samuel Auster, einem schwierigen und distanzierten Mann, auf Papier. „Das Portrait eines unsichtbaren Mannes“ ist ein behutsamer Text über jemanden, der sein Leben nie jemandem erzählt hätte, zu allerletzt seinem Sohn.

Eine Geschichte in dem Buch berichtet davon, dass Samuel Austers Mutter im Jahr 1919 zur Flinte griff und seinen Vater erschoss. Sie wurde nicht verurteilt dafür. Das Gericht zeigte Nachsicht mit der von ihrem Mann oft misshandelte Frau und hielt die Last des Gewissens für Strafe genug. Die Familie beschloss, die Angelegenheit nie wieder zu erwähnen. Der Preis dafür war, so zu tun, als hätte der Vater nie existiert. Wäre ein Vetter Austers nicht im Jahr 1970 einmal im Flugzeug neben jemandem gesessen, der aus dem kleinen Ort Kenosha in Wisconsin stammte, in dem sich die Tragödie zutrug, und als der Name Auster fiel, ihm die Geschichte erzählte, Paul Auster hätte nie davon erfahren. Sein Vetter hatte ihm später einen Zeitungsausschnitt aus dem Jahr 1919 aus der Kenosha Evening News geschickt.

Auster erzählt im Esszimmer zwischen Küche und Salon davon. Er raucht, er erzählt, er raucht. Seine Stimme ist weich, in der nicht-privaten Radiostation New Yorks ist sie oft zu hören, Auster ist dort ein beliebter Leser seiner eigenen Bücher. Der Turm im Aschenbecher wächst. Zwischendrin steht er auf, händigt den Scheck, den jemand auf der Kommode bereit gelegt hat, der Putzfrau aus. Es liegt Samstagfrüh in der Luft, aufgeräumte Ruhe, ein sattes Kühlschrankschnurren kommt aus der Küche.

Früher verließ Auster das Haus jeden Morgen, in dem er seit zehn Jahren mit seiner zweiten Frau, der Schriftstellerin Siri Hustvedt, lebt. Ging in seine kleine Schreibstube in Brooklyn, ein paar Blocks entfernt, nicht mehr als drei Minuten zu Fuß, ließ die Jalousien herunter, drehte zwei nackte Glühbirnen in ihre Fassungen. Auf einem Zeitungsstapel stand eine alte Kaffeemaschine. Die mechanische Schreibmaschine hatte bessere Zeiten gesehen. Wenn Auster vom Schreibtisch hochblickte, starrte er auf die schmutzige Wand. Wenn das Telefon klingelte, und es waren weder sein Lektor noch seine Frau am Apparat, fragte der sonst so zuvorkommende Auster scharf, woher der Anrufer die Nummer habe. Erst recht, wenn ein Journalist am anderen Ende der Leitung war.

Fünf Dollar für den Diner

Regelmäßig schrieb Auster bis Mittag in seiner Schreibstube. Dann ging er hinaus, lief durch Brooklyn, verschwand in irgendeinem Diner zum Mittagessen. Aß und sah. Immer noch war er unbekannt, wurde in Frieden gelassen, fühlte sich wohl, war einer unter vielen anderen, fünf Dollar das Mittagessen. Er kehrte nach seinem Lunch in die Schreibstube zurück, arbeitete für zwei weitere Stunden. Dann ging er nach Hause, wo ein Hund, seine Frau und die kleine Tochter Sophie warteten. Später zog auch sein Sohn Daniel wieder ein. So verliefen seine Tage. Die Sorgen der mageren Zeiten waren überwunden. Es waren konfliktfreie Jahre, Freunde wunderten sich nicht darüber, dass nun alles so reibungslos verlief, weil Auster seine dunklen Seiten in seinen Büchern abarbeitete.

Doch dann geschah etwas, das sich Paul Auster eigentlich schon gewünscht hatte, bevor er anfing, Bücher zu schreiben. Als der Filmregisseur Wayne Wang an Weihnachten 1990 die New York Times aufschlug, blieb er an einer Geschichte hängen. Es war eine ungewöhnliche Weihnachtsgeschichte. Der Autor der Geschichte hieß Paul Auster, lebte, so stand es unter dem Text, in Brooklyn, und Wayne Wang hatte noch nie von ihm gehört. Er riss den Text aus und nahm sich vor, den Mann anzurufen.

Als Wochen später das Telefon in der Schreibstube klingelte, steckte Auster tief in der Arbeit an einem neuen Roman. Der Anrufer war Wayne Wang. Er wollte die Weihnachtsgeschichte verfilmen.

Der Anruf wurde zu einer Art Zäsur für Paul Auster. „Als junger Mann war ich sehr an Filmen interessiert. Ich wollte tatsächlich Filmemacher werden“, sagt Auster. „Später dachte ich nicht mehr daran. Als meine Romane erschienen, begannen sich Leute zu melden, die meine Bücher verfilmen wollten. Aber die meisten Literaturverfilmungen, die ich gesehen hatte, waren schlecht, und ich lehnte alle Angebote ab.“ Auster fühlte die Skepsis des Romanciers gegenüber dem Film. Erst als eines Tages der Dokumentarfilmer Philip Haas anrief und anfragte, ob er Austers Roman „Die Musik des Zufalls“ verfilmen könnte, gab Auster seine Einwilligung.

Der Anrufer Wayne Wang war ein anderes Kaliber als Philip Haas. Er hatte Geld, er hatte Hollywood-Erfahrung. Wang machte Filme, die allen gefallen. Auster mochte auch, dass Wang noch nie von ihm gehört hatte, die Weihnachtsgeschichte also mit der größten Unschuld lesen konnte. Und aus dem Geschichtchen entstand der Film „Smoke“, der 1996 mit großem Erfolg in die Kinos kam. Gleich im Anschluss drehte das Team „Blue in the Face“. Auster führte in dem Film gemeinsam mit Wayne Wang die Regie.

Das nächste Filmprojekt Austers kam 1998 in die Kinos: „Lulu on the Bridge“. Paul Auster hatte diesmal das Drehbuch geschrieben und alleine Regie geführt. Der Film war ein kommerzieller Flop und rasselte nicht nur bei der gänzlich unbeeindruckten amerikanischen Kritik durch. Auch die deutsche Kritiker, zu deren Lieblingen Auster gehört, fand den Film halbbacken.

Doch da sitzt er nun, holt ein neues Päckchen Zigarillos aus dem Keller, wo er, seit er das Stübchen aufgab, auch seine Schreibmaschine stehen hat, und dann erzählt er, dass durch seinen Kopf bereits eine neue Filmidee geistert. „Mich hat das Filmemachen gepackt. Ich war so lange einsam, und es ist so eine unterschiedliche Erfahrung, einen Film zu machen, mit hunderten von Leuten zusammenzuarbeiten“, sagt er mit Eifer. Erst im letzten Frühjahr hat er ein Drehbuch abgeschlossen, gemeinsam mit Siri Hustvedt. Wayne Wang wird es verfilmen. „Der Unterschied ist klar. Beim Schreiben eines Romans implodiert man, beim Machen eines Films darf man explodieren“, sagt er, und immerhin sei es ja auch ein Jugendtraum.

Vor ein paar Jahren, im Garten seines Hauses, erzählte Auster, dass er sich oft wundere, und dass ihn dabei eine heftige Traurigkeit befällt, wenn er sieht, was aus vielversprechenden Kindern später einmal wird. Sobald sie in die Pubertät kämen, ihre solipsistischen Welten verlassen, werden sie gewöhnlich und in den meisten Fällen langweilig. Thematisiert hat das Paul Auster in seinem vorletzten Roman, „Mr. Vertigo“. Darin kann der Protagonist fliegen. Mit der Pubertät verliert er seine Fähigkeit. Das Buch läuft aus in ein Porträt eines gealterten, melancholischen und ganz gewöhnlichen Mannes.

Ein nichtiges Leben

Das Glück des ehemaligen Wunderknabens ist es, dass er jemanden fand, der für ihn seine Geschichte erzählt und ihn so vor der völligen Vergessenheit bewahrt. Sein letztes Buch, „Timbuktu“ führt das Thema der Einsamkeit noch weiter. Oft waren die Erzähler in Austers Büchern selber Schriftsteller (Leviathan, Auggi Wren). Diesmal ist der Erzähler kein Schriftsteller, sondern – ein Hund. Er ist der letzte Begleiter des völlig nichtigen und zu Ende gehenden Lebens seines Herrchen. Die Angst vor dem Alleingelassen werden sitzt tief, es ist die Negation dessen, das man alleine ist. „Man muss erkennen, gleich von Beginn an, dass die Essenz des Projektes das Scheitern sein wird“, schrieb Auster über den Versuch in „The Invisible Man“, seinen Vater kennen zu lernen.

Es ist kein Wunder, dass Paul Auster als sein Lieblingsbuch „Bartleby the Scrivener“ von Hermann Melville nennt. Die Einsamkeit des Mannes darin geht an die Grenze des Unerträglichen, und gleichzeitig ist die Tatsache, dass es diesen Erzähler gibt, der Bartleby bemerkt und seine Geschichte erzählt, nicht nur herzerwärmend, sondern eine Rettung für alle. „Bis zur Pubertät fühlen wir uns niemals beobachtet, weil wir keine Beobachter brauchen“, sagte Paul Auster damals im Garten.

Als er das sagte, waren es noch ein paar Wochen, bis Paul Austers Sohn Daniel in einen spektakulären Mordfall in der New Yorker Nachtclub-Szene verwickelt wurde. Die Presse verhielt sich still damals. Sie respektierte die Privatsphäre der Austers. Später frage ich Paul Auster einmal, wie die Angelegenheit ausgegangen war. Er hob nur die Hand. Ein Jahr später las ich in der Toilette eines Restaurants im New Yorker Stadtteil SoHo mit Filzstift an die Wand gekritzelt: „Befreit Daniel Auster“.

Durch die Filmarbeit ist Austers Leben entzwei gebrochen. Die Krise, die der Bruch bedeutet, ist die quintessenzielle Auster-Geschichte. Warten wir, bis er sie erzählt.

Vom Autor erscheint in diesen Tagen der Band „Hintergrundrauschen – Zu Besuch bei amerikanischen Schriftstellern“. Picus Verlag, Wien. Dort ist auch die ungekürzte Version dieses Textes nachzulesen.